Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
gestellt oder gar ausgeschaltet hatte. Der Regen trommelte auf die Windschutzscheibe, als sie an einem Einkaufszentrum vorbeifuhren, in dem ein großer Elektromarkt leer stand. Nur das Rumpeln des Wagens und das rhythmische Geräusch der Scheibenwischer waren zu hören.
»Du siehst gut aus, mein Schatz.« In dem einfachen schwarzen Kleid, das Megan sonst nur zu Schulkonzerten trug, und mit den flachen schwarzen Schuhen sah sie erstaunlich erwachsen aus. Ihr Haar war vom Duschen noch feucht, ein schwarzes Samtgummiband hielt es zusammen.
Megan lächelte kurz, aber die Anspannung in ihrem Gesicht war unübersehbar. »Die Veranstaltung wird bestimmt seltsam, oder?«
»Ein bisschen schon, aber wir stehen das durch.«
»Wird der Sarg wie bei Grandma offen sein?«
»Nein.« Jill dachte an die Totenwache ihrer Mutter zurück. »Es ist kein Gottesdienst, nur eine Trauerfeier in einer Kirche – einer sehr alten Kirche.«
»Aber William ist nie in die Kirche gegangen.«
»Manchmal feiert man eben in einer Kirche, auch wenn der Tote nicht gläubig war.«
»Und danach gehen wir in ein Restaurant wie bei Grandma?«
»Keine Ahnung.«
»Wer außer Abby und Victoria wird noch da sein?«
»Vielleicht Williams Freunde und Arbeitskollegen. Ich weiß es nicht.«
»Wo hat er zuletzt gearbeitet?«
»Auch das weiß ich nicht.«
Megan schüttelte den Kopf. »Er war mal mein Dad, und trotzdem wissen wir nichts mehr über ihn.«
Jill kannte das Gefühl, allerdings aus der anderen Pers pektive. Aber so, wie es unmöglich war, eine ehemalige Mom zu sein, so war es wohl auch unmöglich, eine ehemalige Tochter zu werden.
»Wir waren einmal eine Familie, aber das scheint er wohl vergessen zu haben. Er hat sich einen Dreck um uns geschert.«
»Er hat dich bestimmt nicht vergessen.« Jills Finger umklammerten das Lenkrad. Wie oft hatten sie schon darüber gesprochen. Aber jetzt, da William tot war, tauchten all die Fragen plötzlich wieder auf.
»Er hat keine einzige Mail, keine einzige SMS von mir beantwortet. Er hat mich nie angerufen, noch nicht mal, als ich in die National Junior Honor Society aufgenommen wurde.« Megans Tonfall war sachlich kühl. »Du hast wenigstens versucht mit Abby und Victoria in Kontakt zu bleiben, er hat nicht einmal geantwortet, wenn ich ihn kontaktiert habe.«
»Das bedeutet aber nicht, dass er dich vergessen hat.«
»Doch.«
»Nein, nicht unbedingt.« Jill wollte Megan trösten, auch wenn Williams Verhalten für sie nicht entschuldbar war. Dafür würde sie ihn bis zum Ende aller Tage hassen.
»Aber warum sonst hat er dann meine Mails nicht beantwortet?«
Jill suchte nach einer ehrlichen Antwort. »Vielleicht kam er mit der Verletzung, die er dir zugefügt hat, nicht klar. Man kann nie wissen. Aber eines weiß ich ganz genau: Niemand könnte ein wunderbares Mädchen wie dich je vergessen.« Sie tätschelte Megans Knie, dann wurde es wieder still im Wagen. Megan sah wieder aus dem Fenster, ihr Kopf bewegte sich im Rhythmus des fahrenden Wagens leicht hin und her.
»Sieh mal, Mom, da fährt ein Auto mit nur einem Scheinwerfer. Erinnerst du dich noch daran, wie Abby, Victoria und ich ein Spiel daraus gemacht haben?«
Jill erinnerte sich. Wer ein Auto mit einem defekten Frontscheinwerfer auf der Straße entdeckt hatte, bekam einen Punkt. »Natürlich, aber ich kann keinen solchen Wagen erkennen.«
»Sieh in den Rückspiegel. Der schwarze hinter uns.«
Ein schwarzer SUV klebte an ihrem Heck. Nur einer seiner Frontscheinwerfer brannte. Gestern Abend hatte Jill Abby im Schein eines schwarzen SUV entdeckt. Auch bei ihm hatte nur ein Scheinwerfer gebrannt. Nicht dass das irgendetwas bedeuten musste. Die Welt war voller schwarzer SUV s, mit und ohne funktionierenden Scheinwerfern. Ein Grund mehr, weshalb Jill einen weißen Volvo fuhr.
Der SUV gestern Abend hatte eher rechteckige Schein werfer gehabt. Aber hatten nicht alle SUV s rechteckige Scheinwerfer? SUV s waren überhaupt schwer, massig und sahen aus wie Kisten, die man auf Räder gestellt hatte.
»Meinst du, Abby und Victoria denken noch an uns, wenn sie Autos mit nur einem Scheinwerfer sehen?«
»Bestimmt.«
»Ich glaube, dass Abby an uns denkt, Victoria eher nicht. Abby hat uns mehr gemocht.« Megan sah wieder zu Jill, ihr dunkler Blick wirkte traurig. »Victoria hat es nicht zugelassen, Menschen wirklich zu lieben. Verstehst du, was ich meine?«
»Sogar sehr gut.«
»Victoria liebt zu wenig, Abby zu viel. Komisch, oder?«
Jill warf
Weitere Kostenlose Bücher