Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
älteren Bruder erinnerte. »Ray ist anfällig für Heuschnupfen. Dave und Sie auch?«
»Ja, schon. Warum?«
»Sehen Sie.« Jill zeigte ihr den Fleck. »Das hier ist ein Ekzem.«
»Tatsächlich? Ich habe es für einen Hautausschlag oder eine Hautblase gehalten. Gestern habe ich im Garten gearbeitet, und Rahul hat währenddessen im Gras gesessen.«
»Es ist nichts Beunruhigendes. In Familien vererbt sich so etwas leicht.«
»Ich weiß.«
»Schauen wir uns deine Haut mal weiter an.« Jill untersuchte Rahul an Brust, Bein, Nacken, Rücken und seinen zierlichen Schulterblättern, die an den Ansatz von Engelsflügeln erinnerten. Sie fand keine Ekzeme mehr. »Wie ist sein Appetit?«
»Es geht.«
»Und wie sieht es mit dem Trinken aus?«
»Normal.«
»Schlafen? Sie sagten, dass er nachts an seinem Ohr herumspielt.«
»Ja, ab und an.«
»Der arme Kleine.« Jill sah Padma an. »Sie haben wahrscheinlich recht. Es ist wieder eine Ohrenentzündung. Für ein Baby, das nicht bei einer Tagesmutter oder in der Krippe ist, erkrankt Rahul ziemlich oft daran. Andererseits hat er ältere Brüder, die eine Menge Bazillen aus der Schule mit nach Hause bringen.«
Padma sah besorgt aus. »Was halten Sie von Ohrdrainagen? Meinem Neffen haben die Röhrchen geholfen.«
»Dazu würde ich bei Rahul nicht raten. Wenn seine Sprachentwicklung durch die Entzündung gestört wäre, dann ja, aber das ist bei ihm nicht der Fall. Sie können ihn wieder anziehen.« Jill ging zum Computer, um die Untersuchungsergebnisse einzugeben.
»Also keine Drainagen?«
»Noch nicht. Lassen Sie mich noch eine Sache nachsehen.« Jill überprüfte in der elektronischen Patientenakte Rahuls Gewichtskurve, die bedenklich nach unten zeigte.
»Ich gebe ihm also weiter Amoxicillin?«
»Ja. Die letzte Einnahme ist ja schon über einen Monat her. Versuchen Sie es zusätzlich noch mit Tylenol und kommen Sie am Mittwoch wieder vorbei. Ich weiß, Sie haben kaum Zeit, aber ich möchte ihn im Auge behalten.«
»Okay.«
»Und bevor Sie gehen, würde ich Rahul gern noch etwas Blut abnehmen.« Jill wollte Padma nicht beunruhigen, aber es bestand die Möglichkeit, dass der Kleine an einer Autoimmunerkrankung, Leukämie oder an einer Lymphknotenvergrößerung litt. »Das Labor ist am Ende des Flurs. Es wird nicht lange dauern.«
»Blut abnehmen?« Padmas dunkle Augen weiteten sich. »Wegen einer Ohrenentzündung?«
»Ich möchte herausfinden, warum seine Ohren so anfällig sind, und mithilfe des Blutbildes kann ich mir einen genauen Überblick über seinen Körper und die Infektion verschaffen.« Aber nicht nur das, der Bluttest würde ihr auch Aufschluss über die Anzahl von Lymphozyten, Neutrophilen und Monozyten in Rahuls Blut liefern. Mit diesen Daten hoffte sie, eine schlimmere Erkrankung ausschließen zu können. »Sie gehen einfach den Flur entlang. Mit Selena wird das ganz schnell gehen, das verspreche ich Ihnen.«
»Und Sie glauben wirklich, dass das notwendig ist?«
»Das denke ich. Ich rufe Sie an, sobald ich die Ergebnisse habe, wahrscheinlich am Dienstag. Und falls es vorher irgendwelche Veränderungen bei Rahul gibt, sagen Sie mir Bescheid.« Jill druckte das Rezept für Amoxicillin aus, unterschrieb es und gab es Padma.
»Danke.« Padma zog Rahul die Jeans an.
»Zögern Sie nicht, mich anzurufen.«
»Versprochen.« Padma lächelte, als Jill sie umarmte.
»Und Grüße an Dave und die Jungs. Bis bald, Rahul.« Jill streichelte die Wange des Kleinen ein letztes Mal und verließ dann das Sprechzimmer. Das Medizinzentrum, in dem sie arbeitete, hatte samstags bis ein Uhr Sprechstunde, aber Jills Armbanduhr zeigte bereits Viertel nach eins. Sie war wie immer spät dran, weil sie sich für ihre Patienten gern Zeit nahm, was oft zu Konflikten mit Sheryl Ewing führte, der Leiterin des Zentrums. Jill hoffte, ihr heute nicht über den Weg zu laufen. Eine Moralpredigt war vor der Trauerfeier das Letzte, was sie brauchte.
Zorn überkam sie, als sie an William dachte. Wie konnte sie nur auf die Trauerfeier eines Menschen gehen, dem sie den Tod gewünscht hatte? Die Wut auf ihn war noch immer grenzenlos. Und wenn sie ehrlich war, würde es sie nicht wundern, wenn jemand anders ihn umgebracht hätte. In den finsteren Momenten ihres Lebens hätte sie das liebend gern selbst erledigt.
8
Jill fuhr auf der Route 202 Richtung Philadelphia, Megan saß still neben ihr und starrte zum Fenster hinaus. Sogar ihr Handy schwieg. Jill überlegte, ob sie es leise
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