Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
durchgeknallt, Mom.«
»Das habe ich von dir gelernt.«
Megan lachte wieder und beantwortete dann die SMS . Jill gab Gas. Der schwarze SUV war noch immer hinter ihnen, aber ein weißer Pick-up hatte sich dazwischengeschoben, sodass sie die Automarke nicht erkennen konnte. Als sie den West River Drive erreichten, tauchte der SUV im Verkehr unter. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, und sie stellten den Wagen in einem Parkhaus ab.
»Wir bleiben aber zusammen, verstanden?«, sagte Megan.
»Keine Sorge.« Jill gelang es zu lächeln. Den schwarzen SUV verbannte sie aus ihrem Kopf.
9
Jill und Megan waren zeitig dran. Durch eine der Bogentüren betraten sie die Kirche. Eine kleine Gruppe von Trauergästen, allesamt gut gekleidet, unterhielt sich in gedämpftem Ton, während sie zu ihren Plätzen ging. Jill kannte niemanden, war aber darüber nicht besonders überrascht. Die wenigen gemeinsamen Freunde hatten sich nach der Scheidung auf ihre Seite geschlagen. Sie entdeckte Abby, die Beileidsbekundungen entgegennahm. Neben ihr stand der Pfarrer in seinem rot-weißen Gewand.
»Die arme Abby«, sagte Jill zu Megan.
»Sie sieht schlecht aus«, flüsterte Megan. »Sie tut mir so leid.«
Abby wirkte in ihrem hauchdünnen Wickelkleid verloren und trug zu viel Make-up. Aber wo war Victoria? Jill konnte sie nirgendwo entdecken. »Siehst du Victoria, Megs?«
»Wenn die alte Dame da drüben sich bewegt, kannst du sie sehen. Sie sieht besser aus als Abby. Schau, Mom, wie hübsch sie ist. Sogar Strähnchen hat sie in den Haaren.«
»Wirklich?« Jill reckte den Hals. Victoria trug ein schwarzes Leinenkleid, ihr hübsches Gesicht war mit dem Erwach senwerden länger geworden, die Wangenknochen traten noch stärker hervor als früher. Ihr dezentes Make-up brachte ihre haselnussbraunen Augen zur Geltung, dazu trug sie Perlenohrringe. Victoria strahlte eine Anmut und Gelassenheit aus, die zu ihren erst dreiundzwanzig Jahren nicht so recht passen wollten. Jill fühlte gemischte Emotionen in sich aufsteigen. Einerseits war sie froh, dass aus Victoria eine schöne junge Frau geworden war. Andererseits stimmte es sie traurig, dass sie so viele Jahre in ihrem Leben verpasst hatte und sie sich nun unter diesen Umständen wiedersahen.
»Das da ist wahrscheinlich ihr Freund«, flüsterte Megan Jill zu. Ein großer, gut aussehender junger Mann in schwarzem Anzug stand hinter Victoria. Er trug eine Brille mit Drahtgestell.
»Du glaubst, dass sie einen Freund hat?«
»Natürlich. Ich habe ihn schon häufig auf den Fotos auf Abbys Facebook-Seite gesehen.«
Jill war nicht überrascht, dass auch Megan Abbys Facebook-Seite besucht hatte. »Setzen wir uns. Es wird gleich beginnen.«
»Mom, Abby hat uns entdeckt. Sie kommt zu uns. Was soll ich ihr nur sagen? Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leidtut.«
»Sag einfach, was du fühlst.« Jill beobachtete ihre Stieftochter. Niemanden schien Williams Tod so mitzunehmen wie sie, niemand außer Abby vergoss eine Träne, was allerdings auch kein Wunder war. William hatte schon in ihrer gemeinsamen Zeit viele Bekannte, aber keine richtigen Freunde gehabt. Jill hätte also gewarnt sein müssen, aber Liebe machte ja bekanntlich blind.
»Was genau soll ich sagen?«, fragte Megan wieder. Sie war aufgeregt.
»Sag noch einmal, wie sehr es dir leidtut.«
»Einfach: ›Es tut mir leid.‹? Oder: ›Es tut mir entsetzlich leid.‹? Oder doch etwas anderes?«
»Einfach nur: ›Es tut mir leid.‹ Das reicht.«
»Abby, es tut mir leid. Wirklich.«
»Danke.« Abby drückte Megan fest an sich, dann umarmte sie Jill. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Danke, dass ihr gekommen seid. Jetzt ist es real. Jetzt ist er wirklich nicht mehr da. Und all die Leute hier, die ich nicht einmal kenne.«
Jill ließ Abby los, als sie sah, dass nun auch Victoria auf sie zukam. Ihr Blick war nicht gerade freundlich.
»Was machst du hier?« Victorias Augen glühten vor Zorn. »Du hast kein Recht, hier zu sein. Das ist eine private Veranstaltung.«
Jill zuckte zusammen. »Es tut mir leid, aber ich dachte …«
»Ich habe sie eingeladen«, mischte sich Abby ein.
»Bist du verrückt geworden?« Wütend wandte sich Victoria wieder an Jill. »Wie kannst du es wagen, in die Kirche zu kommen? Du solltest dich schämen für das, was du unserem Dad und uns angetan hast.«
Megan rang nach Luft. Schon drehten sich Gäste nach ihnen um, der Pfarrer stand mit offenem Mund da.
»Einen Augenblick, Victoria.« Jill hob die
Weitere Kostenlose Bücher