Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
einen Kampf, alles steht an seinem Platz. Aber das passt auch zu meiner Theorie.«
»Welche Theorie?«
»Dad saß mit seinem Mörder im Arbeitszimmer. Sie haben etwas getrunken, dann ist er in sein Schlafzimmer gegangen … und gestorben. Er lag auf der linken Seite des Bettes, neben der Tür zum Arbeitszimmer. So habe ich ihn gefunden. Verletzungen hatte er keine.«
»Ich verstehe.« Jills Brust wurde eng, als sie auf das Bett blickte. Das Laken war noch immer zerwühlt, auf der linken Seite entdeckte sie Urinflecken. Ihr schauderte.
»Er trug Jeans und sein weißes Anzughemd. Das bedeutet: Er kam von einem Meeting oder war auf dem Weg dorthin.« Abby ging zum Nachttisch, auf dem zwei Stifte, eine Autozeitschrift und ein Handy-Ladegerät lagen. »Drei Medizinfläschchen standen hier, daneben lag ein Handy. Die Polizei hat alles mitgenommen. Aber ich weiß, dass die Tabletten nicht von Dad waren.« Abby griff in die Tasche ihres Kleides, zog einen gelben Notizzettel heraus und gab ihn Jill. »Ich habe den Namen des Doktors und seine Telefonnummer aufgeschrieben. Er ist nicht unser Hausarzt und ruft nicht zurück.«
Jill las den Notizzettel:
Dads Medikamente:
Vicodin, ein Mal pro Tag 5 mg
Xanax, ein Mal pro Tag 10 mg
Temezepam, ein Mal pro Tag 10 mg
Dr. Ray Patel # 9483636
Tel. (215) 555–2923
Alle drei besorgt am 12.4.
Broad-Street-Apotheke, 1200 N. Broad Street
(215) 555–9373
Jill dachte kurz nach. »Das Rezept könnte auch ein Psychiater ausgestellt haben. Dein Dad wollte nicht, dass du davon erfährst.«
Abby war empört. »Nie im Leben! Ich bin mit einem Foto von Dad in die Apotheke gegangen. Niemand konnte sich an ihn erinnern. Und dabei sind alle Mitarbeiter dort Frauen! Jetzt frage ich dich: Welche Frau kann Dad nach nur einer Woche vergessen?«
»Möglich ist alles.« Jill selbst versuchte schon lange vergeblich, William zu vergessen. Sie wollte Abby den Zettel zurückgeben.
»Behalte ihn. Ich habe eine Kopie.«
»Du hast gesagt, er besaß eine Waffe. Wo ist sie?«
»Hier.« Abby zog die Schublade des Nachttisches auf, in der ein schwarzer Revolver lag. »Er ist geladen.«
»Aber wenn jemand versucht haben sollte, William umzubringen, warum hat er sich dann nicht mit dem Revolver verteidigt?«
»Man hat ihn betäubt. Und als er gemerkt hat, was vor sich geht, war es zu spät.«
»Er hätte zumindest den Alarm auslösen können.« Jill hatte den Knopf für die Alarmanlage direkt neben dem Bett entdeckt. Schon damals, als er mit Jill zusammenlebte, hatte William auf einer Alarmanlage bestanden. »Zudem ist das Zimmer in perfekter Ordnung. Warum hat er sich nicht gewehrt? Dein Vater war groß und stark.«
»Der Mörder kann hinterher alles wieder aufgeräumt haben. Die Polizei hat keine Kriminaltechniker kommen lassen, aber für die war es ja auch kein Verbrechen.« Abby klang selbstsicher. »Ich werde ermitteln. Egal, ob du mir hilfst oder nicht. Egal, was es mich kostet, und egal, wie lange ich dafür brauche.«
»Aber warum sollte jemand William umgebracht haben?«, fragte Jill. Sie musste Abby wieder zur Vernunft bringen. »Es spricht auch nichts für einen Raubmord.« Auf der Kommode stand eine mit Samt ausgeschlagene Schachtel mit wertvollen Uhren, offen, gut sichtbar – und unberührt. »Was ist mit seiner Brieftasche?«
»Die hat die Polizei in seiner Gesäßtasche gefunden.« Abby klang frustriert. »Dann war es halt kein Raubmord. Vielleicht ging es ja um etwas Persönliches?«
»Kennst du jemanden, der mit ihm im Clinch lag?«
»Nein. Viele nannten ihn nur respektvoll ›den Bürgermeister‹. Alle mochten ihn. Er hatte viele Freunde.«
Jill sagte nichts. Wenn dem so war, wo waren die »vielen Freunde« dann bei der Trauerfeier gewesen? Hatte – außer Abby – überhaupt jemand eine Träne vergossen? »Wer ist dieser Neil?«
»Neil Straub, Dads Geschäftspartner.«
»Hat er sich mit William verstanden?«
»Sehr gut sogar. Neil hätte Dad nie etwas angetan.«
»Wo lebt er?«
»In New York. Sie sind viel zusammen herumgereist.«
»Okay, dann können wir jetzt gehen?« Jill hatte lang genug diese Posse über sich ergehen lassen. Es schien, als würde sich Abby immer mehr in ihre Hirngespinste hineinsteigern.
»Warte, da ist noch etwas.« Abby ging ins Badezimmer und öffnete den Medizinschrank. »Dad hat nie im Nachttisch seine Medikamente aufbewahrt, sondern hier. Sieh, seine Cholesterintabletten.« Ein leiser Hip-Hop-Klingelton unterbrach sie. »Das ist mein
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