Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
kann. Du nicht. Weil du nicht objektiv bist. Du liebst sie.«
»Was redest du da?«, fragte Jill. »Willst du sie etwa nicht im Haus haben?«
»Ich finde, du solltest den Kontakt zu ihr etwas einschränken und auch dafür sorgen, dass Megan und sie sich nicht so oft sehen. Du hast ihr geholfen, weil sie in Not war. Ganz automatisch, ohne Fragen zu stellen, wie du es immer tust. Ist jemand verletzt oder krank, tust du alles, um ihm zu helfen.« Sam sah ihr in die Augen. »Deshalb bist du auch so eine großartige Mutter und Ärztin, aber in diesem Fall müssen verschiedene Interessen berücksichtigt werden. Du solltest sorgfältig abwägen.«
Jill war ganz und gar nicht einverstanden. »Du bläst die Sache zu sehr auf. Was soll Megan schon dagegen haben, wenn Abby für ein paar Tage hier wohnt?«
»Megan hat lange gebraucht, um sich an ein Leben ohne sie zu gewöhnen, erinnerst du dich nicht? Ich schon.«
Jill nickte. Nach der Scheidung hatte Megan den Boden unter den Füßen verloren. Sie war dünnhäutiger und empfindlicher geworden. »Aber das war nicht nur wegen Abby.«
»So oder so, Abby hat sich verändert – genauso wie Megan. Die beiden Mädchen passen nicht mehr zueinander. Megan ist stärker geworden, Abby schwächer.«
»Ich verstehe dich einfach nicht.« Allmählich wurde sie ärgerlich und konnte ihre Wut nicht verhehlen. »Abby braucht gerade jetzt unsere Hilfe. Sie ist so verletzlich, Sam. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um sie. Kannst du das Ganze nicht mal aus dieser Perspektive sehen?«
»Ich weiß nicht, wohin uns diese Reise führt und ob wir überhaupt irgendwo ankommen werden, aber Abby braucht in nächster Zukunft viel Unterstützung, das stimmt. Sie braucht eine Therapie, sie braucht eine Familie, sie braucht Liebe und ein Zuhause. Sie braucht, sie braucht …« Sam neigte den Kopf, sein Blick war nachdenklich. »Aber wann wird Schluss mit diesen Hilfeleistungen sein? Du lädst uns da etwas auf, was du nicht kontrollieren kannst. Bald wird Megan aufs College gehen, sollen wir dann allein mit Abby hier herumsitzen? In meinem Alter will ich mich nicht mehr mit einem Problemkind herumschlagen.«
Jill zuckte zusammen. »Jetzt übertreibst du aber. So weit ist es doch noch gar nicht.«
»Aber man sollte trotzdem schon an die möglichen Konsequenzen denken. Was ich jetzt tue, wird Folgen haben – und zwar erst später. Du weißt, ich bin Forscher. Im Leben muss man immer vorausschauen.«
Den letzten Satz hatte er schon einmal zu Megan gesagt. Jill erinnerte sich. »Worauf willst du hinaus?«, fragte sie ungeduldig.
»Wir sollten erst denken, bevor wir handeln. Darauf will ich hinaus. Du hast die Mentalität eines Notarztes. Wenn etwas passiert ist, handelst du sofort.«
»Ich handle deshalb sofort, weil ich eine Mutter bin. Alle Mütter tun das, Sam. Wir sind praktische Menschen.«
»Aber wessen Mutter bist du? Bist du nicht viel zu schnell wieder in die Rolle von Abbys Mutter geschlüpft?«
»Ich war mehrere Jahre lang ihre Mutter.«
»Aber jetzt bist du es nicht mehr.«
»Meinst du das ernst?« Jills Brust zog sich zusammen. »Ist man nicht Mutter oder Stiefmutter fürs Leben? Die Liebe zu einem Kind endet doch nicht, weil die Ehe der Eltern geschieden wird.«
»Aber du hast keine Verantwortung mehr. Du bist zu nichts mehr verpflichtet.«
»Lass uns das mal von einer anderen Seite betrachten: Steven, dein Sohn, wird mein Stiefsohn, wenn wir heiraten. Ich mag ihn sehr, er ist ein wunderbarer junger Mann. Nehmen wir mal an, dir passiert etwas, was der Himmel verhindern möge. Ich heirate wieder, und Steven gerät in Schwierigkeiten. Soll ich mich dann nicht um ihn kümmern, nur weil mein neuer Ehemann es vielleicht nicht will?«
»Steven ist dreißig Jahr alt, lebt in Texas und kommt gut allein klar. Er braucht uns nicht mehr. Er besucht uns ja nicht mal.«
»Aber auch er könnte in Not geraten und mich brauchen.«
»Du kannst nicht für alle Zeiten für deine Kinder da sein.«
»Wahre Liebe endet nie, Sam.«
»Aber unser Leben endet irgendwann, und vergiss nicht: Alles hört einmal auf.«
»Das weiß ich.« Jill hatte das Gefühl, dass Sam ihr auswich. »Wäre es dein Wunsch, dass ich mich um Steven kümmere?«
»Nein, ich komme auch in diesem Szenario zu dem gleichen Schluss.« Sam presste die Lippen zusammen. »Ich hätte vollstes Verständnis für deinen neuen Ehemann. Ich liebe dich, ich liebe Megan, aber deine ehemalige Stieftochter, die in Schwierigkeiten steckt,
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