Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
Restaurantbesuche und Golfspiele wurden da verabredet, Zeitungsartikel und YouTube- Links ausgetauscht. Spannender war da schon eher, zu welchen Themen es keine E-Mails gab. Keine einzige Nachricht, bei der es um Geschäfte, Geschäftsbeteiligungen oder Investitionen ging. Merkwürdig, schließlich musste William ja das Haus, den Unterhalt der Mädchen und seinen Lifestyle mit irgendetwas bezahlen.
Waren manche Ordner absichtlich gelöscht worden? Bei dem Verlauf des Browsers war das jedenfalls der Fall. Hatte William selbst reinen Tisch gemacht, oder war es jemand anderes gewesen?
In der Bildersammlung fand Jill drei Ordner: Reise nach London mit den Mädchen, Victorias Schulabschluss und Neil in Pebble Beach. Sie öffnete den Neil-Ordner. Vielleicht war er ja ein Kandidat für den Mann mit der schwarzen Baseballkappe.
Die Fotos zeigten William und Neil auf einem Golfplatz. Neil trug weiße Baseballkappe und Fliegersonnenbrille, ähnlich der aus dem Überwachungsvideo. Seine Gesichtszüge waren nicht eindeutig zu erkennen, aber er besaß ein gewinnendes Lächeln, hatte ein glattes, prägnantes Kinn und war groß und stattlich – in etwa wie William. Neil trug die Sonnenbrille auf allen Bildern; es gab kein einziges, das in einem Innenraum aufgenommen worden war. Jill druckte ein Foto aus, das ihn zusammen mit William zeigte.
Anschließend googelte sie Williams Geschäftspartner, jedoch ohne Ergebnis. Er war zwar auf Facebook, aber sein Profil war nur Freunden zugänglich. Auch seine Adresse in New York war im Online-Telefonbuch nicht aufgelistet. Neil Straub schien sich mit Angaben zu seiner Person sehr bedeckt zu halten. Warum?
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Jill erkannte die Nummer nicht. Es war fast elf am Abend, vielleicht brauchte ein Patient Hilfe? »Jill Farrow.«
»Ich bin’s, Victoria. Kann ich mit Abby sprechen?«
»Victoria.« Jill wiederholte ihren Namen, so überrascht war sie, ihre Stimme zu hören. Wie gut sie sie doch kannte. Sie hatte sie problemlos bei Schulkonzerten aus dem Chor herausgehört. Victoria hatte eine klare, feste Altstimme, mit der sie jeden Ton halten konnte und die in den hohen Tonlagen den Sopranstimmen vollkommen ebenbürtig war. Weil sich ihre klare Stimme so heraushob, hatte ihr der Leiter des Highschool-Chores bei einem Konzert einen Solopart zugeteilt, was das junge, eher zurückhaltende Mädchen in Angst und Schrecken versetzt hatte – sie war doch erst kurz zuvor dem Chor beigetreten. Nur Minuten vor Konzertbeginn hatte sie Jill von hinter der Bühne voller Panik angerufen.
Ich kann das nicht. Ich werde den Text vergessen. Ein Solo ist nichts für mich.
Victoria, beruhige dich. Du kannst das. Ich weiß es. Jill hatte mit ihrer Stieftochter vom Zuschauerraum aus telefoniert. Abby und Megan hatten neben ihr gesessen, William war wieder einmal nicht gekommen, vielleicht hatte er länger arbeiten müssen.
Wo sitzt ihr? Auf den reservierten Plätzen?
Ja, links von der Bühne in der ersten Reihe. Vergiss alles, mein Schatz, sing einfach nur aus voller Kehle. Alle sollen deine Stimme hören. Wir wissen, wie wunderbar du singst, und es ist an der Zeit, dass auch andere Menschen davon erfahren.
Nach dem Konzert war Victoria mit offenen Armen auf Jill zugerannt. Ihre Augen hatten vor Stolz und Glück gestrahlt.
Ich habe für dich gesungen, Jill. Nur für dich.
»Jill? Bitte, gib mir Abby.« Victorias Stimme klang so kalt, dass Jill erschrocken aus ihrer Erinnerung gerissen wurde.
»Zuerst möchte ich dir sagen, wie leid …«
»Gib mir Abby. Ich muss mit ihr sprechen.«
Victorias Rigorosität verschlug Jill kurz die Sprache, dann unternahm sie einen neuen Versuch. »Hör zu, Abby ist nicht hier. Es tut mir leid, was bei der Trauerfeier passiert ist. Es ist eine schwere Zeit für dich, und ich wäre nicht gekommen, hätte ich gewusst, dass …«
»Du kannst dir den Rest deiner Rede schenken, okay? Ich muss mit Abby sprechen. Ich weiß, dass sie bei dir ist und du bei uns zu Hause warst. Jetzt gib sie mir endlich.«
»Aber sie ist nicht hier. Nach deinem Anruf ist sie zu Hause geblieben.« Jill versuchte freundlich zu bleiben, sie wollte die Tür zwischen ihnen nicht ganz zuschlagen. Schließlich war Victoria noch immer ihre Stieftochter.
»Jill, dein Verhalten ist unmöglich. Gib mir meine Schwester und hör auf, mich anzulügen.«
»Ich lüge nicht. Ich habe dich nie angelogen, mein Schatz.« Kaum war das Kosewort über Jills Lippen gekommen, ahnte
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