Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
akzeptieren will.«
Das hatte Jill vermutet. Victoria war im Gegensatz zu Abby die, die in Ausnahmesituationen einen klaren Kopf behielt. »Vielleicht hat sie ja recht. Den Tod eines Menschen zu akzeptieren kann sehr schmerzvoll sein.«
»Aber damit liegt sie daneben. Alle liegen sie daneben, und ich werde es beweisen.« Abby betrachtete Beef, der vorbeitrottete, während aus seinem Fell Regentropfen zu Boden tropften. Sie legte die Hand auf seinen kupferroten Kopf. Wenn seine nassen Kopfhaare in die Höhe standen, erinnerte er an einen Punker. »Wie ich Beef vermisst habe. Erinnerst du dich an den Tag, an dem wir ihn bekommen haben?«
»Klar.« Sie hatten ihn an einem kalten sonnigen Tag in einem Tierheim im Delaware County entdeckt. Die drei Mädchen begeisterten sich für einen Wurf süßer goldfarbener Welpen, und Abby hob den molligsten von ihnen hoch und taufte ihn sofort auf den Namen Beef.
»Wo ist Megan?«, fragte Abby und rückte ihren Handtuchturban zurecht.
»Sie übernachtet bei einer Freundin.« Jill schnitt das Brot auf und tunkte eine Scheibe in die Eier-Vanille-Mischung.
»Schade. Ich hätte sie gern wiedergesehen.«
»Morgen früh. Sie kann doch über Nacht bleiben, Sam?« Erst jetzt bemerkte Jill peinlich berührt, dass sie die beiden nicht einander vorgestellt hatte. »Abby, das ist mein Verlobter, Sam Becker. Sam, das ist Abby Skyler.«
»Hallo, Abby.« Sam lächelte. »Mein aufrichtiges Beileid. Und natürlich kannst du hier übernachten.«
»Vielen, vielen Dank, Sam«, beeilte sich Jill zu sagen, um ihr eigenes Ungeschick vergessen zu machen. Es kam ihr seltsam vor, dass Abby und Sam sich heute zum ersten Mal sahen. Als hätte man ihr Leben in drei voneinander unabhängige Teile zerstückelt. Drei, weil William sie bereits als Witwe kennengelernt hatte. Sam würde ihr dritter Mann sein.
Abby sah Sam weiterhin an. »Nicht lügen, Sam. Ich habe das ungute Gefühl, dass du sauer auf mich bist. Oder? Sei nicht sauer auf mich, bitte.«
Jill verzog das Gesicht. Der Geruch von angebrannter Butter stieg ihr in die Nase. Sie stellte das Gas für einen Augenblick ab.
»Wie könnte ich denn sauer auf dich sein, Abby. Ich mache mir nur Sorgen«, antwortete Sam vorsichtig. »Du bist betrunken Auto gefahren. Nur deshalb mache ich mir Gedanken um dich.«
»Du bist selbst gefahren?«, fragte Jill überrascht. »Ich dachte, der SUV hätte dich abgesetzt.«
»Welcher SUV ? Ich parke um die Ecke. Ich habe eure Adresse aus dem Internet, konnte aber die Straße partout nicht finden.« Abbys Blick fiel auf Beef, der seine Schnauze an ihrem Bein rieb. Er wollte von ihr weitergestreichelt werden. »Ich werde es nie wieder tun.«
»Das weiß ich doch, mein Liebling.« Jill brachte es nicht übers Herz, Abby zu maßregeln, nicht heute Abend. »Was hast du getrunken?«
»Nur ein bisschen Wodka mit Orangensaft.«
»Schnaps?« Jill verbarg ihre Bestürzung. Damals hatte Abby gesund gelebt, hatte Schwimmen als Leistungssport betrieben. Alle drei Mädchen schwammen, Jill hatte ihre Begeisterung dafür geweckt.
»Dads Tod hat mich aus der Bahn geworfen.« Abby streichelte Beef, der seinen großen Kopf in ihren Schoß legte. »Schön, Beef, dich wiederzusehen. Ich hatte schon Angst, er wäre tot.«
»So alt ist er nun auch noch nicht.«
»Und ob.« Als Abby den Hund tätschelte, verrutschte ihr Kleid. Aus dem Ausschnitt schaute ein Tattoo hervor. Irgendetwas Florales. »Am Valentinstag wird er zehn.«
»Tatsächlich?« Jill versuchte nicht auf das Tattoo zu starren. Für einen Augenblick vergaß sie die Welt um sich herum. Mein Gott, wo sind all die Jahre hin? Abby trinkt und lässt sich Tattoos stechen, und Beef ist älter, als ich dachte. Indem Abby aus dem Nichts hier aufgetaucht war, hatte Jills Vergangenheit sich Zugang zu ihrer Gegenwart verschafft. Sie verlor die Orientierung.
»Aber du hast doch gesagt, dass du dich daran erinnerst. Dad hat ihn dir zum Valentinstag geschenkt.«
»Stimmt.« Diesen Teil der Geschichte hatte Jill ganz vergessen. Sie nahm sich die Zeit und beobachtete Sam, der ein Papiertuch von der Rolle abriss, um damit sein Gesicht und seine Brille abzutrocknen.
»Es ist schön hier.« Abby blickte um sich. »Man sieht, dass du die Küche ausgesucht hast.«
Auch Jill ließ ihren Blick stolz schweifen. Das Haus war noch immer eine Baustelle, aber immerhin die Küche wirkte schon einladend und gemütlich. Da waren die weißen Schränke und Arbeitsplatten aus elfenbeinfarbenem
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