Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
Granit, der von karamellfarbenen Linien durchzogen wurde. Wände, gestrichen in einem goldenen Farbton, die den kirschroten Esstisch und die Kücheninsel perfekt in Szene setzten. Hier aßen sie und surften im Internet, und manchmal machte Megan hier auch ihre Hausaufgaben.
»Das Trinken war ein Fehler, Jill.«
»Schon gut.« Jill hätte zu gern gewusst, wer Abby den Wodka besorgt hatte, wollte sie aber nicht quälen. Heute Abend nicht. »Ich habe bei Facebook gesehen, dass Victoria Jura studiert. Macht es ihr Spaß?«
Sam sah sie erstaunt an. Dass sie das Leben der Mädchen über Facebook verfolgte, war neu für ihn.
»Victoria liebt es. Alles lief auch wunderbar, jedenfalls bis zum Tod von Dad.« Abby hielt inne. »Aber du kennst sie ja. Ihr wird es schon bald wieder gut gehen. Sie rappelt sich auf.«
»Ihr werdet beide darüber hinwegkommen. Aber das braucht seine Zeit. Ihr müsst Geduld haben.« Doch Victoria würde den Schmerz in sich hineinfressen, genau wie Megan.
»Victoria wohnt zusammen mit ein paar Kommilitonen in der Nähe der Uni. Ich in Dads Wohnung in der Stadt. Ich habe keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll.«
»Was ist mit College, mein Schatz? Gescheit genug dafür bist du.« Jill vermied jeden wertenden Ton in ihrer Stimme, trotzdem wich Abby ihrem Blick aus.
»Im Moment kellnere ich. Ich weiß nicht, ob du dich noch erinnern kannst, aber ich hatte angefangen, Kunst zu studieren. Dann habe ich mich von Santos getrennt. Das hat mein ganzes Leben durcheinandergebracht, aber eines Tages werde ich wieder damit anfangen. Das weiß ich.« Abbys Stimmung schien wieder zu kippen. Sie ließ die Schultern hängen, ihr Handtuch-Turban rutschte zur Seite. »Egal, morgen ist Dads Trauerfeier. Er ist schon eingeäschert. Victoria hat sich darum gekümmert, ich hätte es nicht gekonnt. Kommst du zur Feier, Jill? Vielleicht sogar mit Megan?«
»Wir werden sehen. Ich muss sie fragen. Sie wird bestimmt geschockt sein.«
»Und anschließend kommst du mit nach Hause, damit du verstehst, was ich damit meine, dass Dad ermordet worden ist.«
»Das kann ich nicht, mein Schatz. Erst recht nicht mit Megan.«
»Dann beweise ich es dir eben so. Wegen seines Cholesterins hat Dad genau über seine Medikamente Buch geführt und sie alle an einem Ort aufbewahrt. Diese Tabletten, die zu seinem Tod geführt haben sollen, hat er nie genommen.«
Jill kümmerte sich wieder um die Armen Ritter, während Abby weiterredete. William hatte sich tatsächlich immer sehr um seine Gesundheit und sein Wohlbefinden gekümmert. Daneben war alles andere unwichtig geworden, sogar seine Töchter.
»Er hätte diese Tabletten niemals freiwillig eingenommen. Deshalb ist er ermordet worden, und du kannst mir helfen, es zu beweisen.«
»Das kann ich nicht. Ich bin Kinderärztin, kein Detektiv.«
»Du bist Doktor – genau wie Sherlock Holmes einer war. Das hast du mir für die Englischprüfung beigebracht, erinnerst du dich noch? Wegen dir habe ich damals sogar eine Zwei plus bekommen.«
Jill war gerührt. »Trotzdem sind die Fakten nicht dieselben. Der Autor von Sherlock Holmes, Sir Arthur Conan Doyle, war ein erfolgreicher Arzt, und Doktor Watson war Holmes’ wichtigster Mitarbeiter.«
»Aber Holmes und Watson haben einen Mordfall auf die gleiche Weise gelöst, wie du eine Diagnose stellst. Das hast du mir damals gesagt.« Abby beugte sich zu ihr hinüber. »Bitte, hilf mir. Zusammen lösen wir den Fall.«
Sam räusperte sich. »Meine Damen, ich lasse Sie jetzt beide allein.« Er küsste Jill leicht auf die Wange. »Ich liebe dich. Ruf mich, falls du etwas brauchst.« Abby wünschte er eine gute Nacht.
»Dir auch.« Abby winkte ihm zaghaft nach. Kaum hatte er die Küche verlassen, meinte sie: »Ist er nicht ein bisschen zu alt für dich?«
»Pssst. Und nein, ist er nicht.«
Sam hatte es gehört und drehte sich noch einmal um. Was junge Frauen alkoholisiert so alles von sich gaben … »Trink noch einen Kaffee«, vernahm er Jills Rat.
3
»Eine Dusche vor dem Schlafengehen sollte dir guttun.« Jill und Abby gingen die Treppe hinauf, Abby trug noch immer ihren Turban.
»Auf jeden Fall. Und bitte schön einseifen und danach in die Bettdecke wickeln.«
»Genau das habe ich vor.« Jill legte den Arm um sie. Abby schien traurig und kraftlos.
»Dad hatte nach dir keine ernsthafte Beziehung mehr. Ein paar Bekanntschaften, aber keine richtige Freundin.«
»Das ist schade.« Ihre wahren Gedanken behielt Jill lieber für sich.
Weitere Kostenlose Bücher