Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
ihm eine runterhauen?«
Jill lächelte. »Nicht nötig. Ich mag es nur, wenn Megan weiß, dass ich hier bin. Wir sehen uns immer kurz an, bevor sie auf den Startblock steigt.«
»Sie hat dich gesehen.« Wieder gab Sam ihr einen Klaps aufs Bein. »Alles bestens, entspann dich.«
Aber Jills Meinung nach wirkte Megan besorgt, als sie zu Stash, ihrem Trainer, ging. Jim »Stash« Stashevsky war Anfang dreißig und klein, aber gut gebaut, das konnte man trotz Jogginghose und gelbem Polohemd erahnen. Er beugte sich zu Megan, die ihm aufmerksam zuhörte, nickte, dann zu ihm hochsah und den Mund fest zusammenpresste.
»Du schaffst es, Megan!«, rief Sam.
Jill formte aus ihren Händen ein Megafon. »Auf geht’s, Megan, auf geht’s!«
Megan stieg auf den dritten Startblock, ließ die Arme kreisen, setzte eine gelbe Schwimmbrille auf und justierte sie. Jill kannte die Rituale vor dem Start, für einen Blickwechsel mit ihr war es nun zu spät. Megan konzentrierte sich auf das Rennen; dass die Schwimmerinnen neben ihr auf die Blöcke stiegen und nervös die Arme bewegten, nahm sie nicht mehr wahr.
»Auf geht’s, Megan!«, rief Jill wieder.
»Komm schon, Megan!«, rief Sam, und auch Rita, Len und die anderen stimmten mit ein. Jeder feuerte jeden an – unter den Eltern gab es keine Konkurrenz.
Megan und ihre Konkurrentinnen nahmen ihre Positionen auf den Startblöcken ein. Sie gingen in die Knie, beugten die Köpfe nach vorn und umkrampften mit den Zehen den Blockrand. Der elektronische Piep war wegen des Lärms in der Halle kaum zu hören, die Mädchen sprangen in die Höhe, streckten ihre Körper, Finger und Zehen wurden immer länger, und für einen kurzen Augenblick durchschnitten sie die Luft, als wären ihnen plötzlich Flügel gewachsen. Megan erwischte keinen guten Start.
»Sam«, hörte sich Jill sagen, »hast du das gesehen? Sie ist völlig neben der Spur.«
»Sie wird schon wieder aufholen.«
»Nein, darum geht es nicht.« Jill selbst hatte viele Wettbewerbe gewonnen, doch wie schnell ihre Tochter schwamm und ob sie siegte, war ihr nicht wichtig. Megans Bewegungen waren heute irgendwie anders. Sie ruderte mit ihren Armen, konnte nicht beschleunigen, ihre Hände schlugen immer wieder auf die Wasseroberfläche. »Bin ich verrückt, oder stimmt da was nicht?«
»Es ist alles in Ordnung, Schatz.«
»Auf geht’s, Megan!«, rief Jill. Die anderen Schwimmerinnen gaben alles und wurden immer schneller. Coach Stash feuerte Megan an und hielt sein Klemmbrett vor den Mund, damit seine Rufe noch lauter wurden.
Megan fiel erst zwei Längen zurück, dann drei, während die anderen Mädchen schon ihre Fingerspitzen nach dem Ziel ausstreckten. Sie wurde immer langsamer.
Jill sprang auf. »Megan, los!«
Auch Sam erhob sich. »Los, Megan!«
»Hinsetzen, alle beide!«, schrie der Mann hinter ihnen.
Beide ignorierten ihn. Megans Schläge wurden schwächer, bis sie auf halber Strecke aufgab.
Coach Stash eilte zum Beckenrand, Jill sprang die Tribüne hinunter, während sie die Zuschauer beiseitedrängte.
»Hey! Passen Sie doch auf!«, fuhr ein Mann sie an. Die Zuschauer tobten weiter, die Teams am Beckenrand sprangen vor Begeisterung auf und ab, während Jill nach unten hetzte.
»Megan!«, schrie sie, dann verschwand die gelbe Badekappe unter Wasser. Das grelle Tageslicht, das durch die Fenster fiel, spiegelte sich auf den Wellen und machte die Wasseroberfläche undurchsichtig.
»Hilfe!« Jill erreichte die unterste Reihe der Tribüne, sprang über die Brüstung und erreichte halb stolpernd, halb rutschend den Beckenrand.
Von Megan war nichts zu sehen.
Coach Stash warf das Klemmbrett weg und sprang ins Becken, Jill tat es ihm nach. Unter Wasser war von dem Lärm um sie herum fast nichts mehr zu hören. Als Jill die Augen öffnete, sah sie, wie Megan nach unten sank. Luftbläschen stiegen aus ihrem Mund, ihre Augen waren geschlossen.
Coach Stash war als Erster bei ihr. Er fasste sie bei der Hüfte und hob ihren Kopf aus dem Wasser.
»Megan!«, rief Jill, doch Megan blieb bewusstlos. Ihr Kopf fiel nach vorn. »Wir müssen sie auf die Seite legen.«
Coach Stash nickte, in seinen Augen stand blanke Angst. Der Wettkampf wurde abgebrochen, plötzlich wurde es still. Kinder und Eltern standen unter Schock, Sam hastete die Tribüne hinunter.
»Megan!« Endlich erreichten sie den Beckenrand. Helfer packten Megan, hoben sie aus dem Wasser und legten sie auf den Hallenboden. Einer drehte sie auf den Rücken und begann
Weitere Kostenlose Bücher