Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
hören. Jill war verwirrt. Sie war also nicht zu Hause, obwohl ihr Wagen hinter dem Haus stand. Was war gestern Abend passiert, nachdem Jill die Einkäufe vorbeigebracht hatte?
Sie schlich sich in die große Küche, die nicht gerade billig eingerichtet war; es gab mehrere Schränke mit lackierter Front und Anrichten aus schwarzem Marmor. Alles war von einer makellosen Sauberkeit, als sei es neu und unbenutzt. Vielleicht hatte Abby sich gestern Abend ja doch noch Essen vom Chinesen kommen lassen? Doch der Abfalleimer war leer, keinerlei Verpackungs- oder Essensreste, nur der Duft eines frischen parfümierten Müllsacks schlug ihr entgegen.
Jill öffnete den Kühlschrank. Der kalte Braten, der Lachs, der Heidelbeerjoghurt, nichts von dem, was sie gekauft hatte, war von Abby angerührt worden.
Sie schlug die Kühlschranktür zu und warf einen Blick in die Spülmaschine. Auch leer. Auf dem Fußboden entdeckte sie zwei Schalen. Eine war gefüllt mit Trockenfutter, aber die Katze war nirgendwo zu sehen.
Sie versteckt sich immer, wenn Fremde zu Besuch kommen.
Die zweite Schale war mit Milch gefüllt, die bereits etwas angedickt war und einen gelben Streifen am Schalenrand hinterließ. Plötzlich wurde es laut. Victoria und Brian betraten das Haus, die beiden Polizisten kamen die Treppe herunter. Jill verließ die Küche.
»Was hast du da drinnen gesucht?«, fragte Victoria. Ihr Freund Brian stand neben ihr. Er war groß, gut aussehend, trug seine Brille mit Drahtgestell, ein weißes gestärktes Oxfordhemd, gebügelte Jeans und Slipper von Gucci – das perfekte Wochenend-Outfit für einen Anwalt aus Manhattan.
»Doktor Farrow, ich hatte Sie zu Ihrem eigenen Schutz gebeten, vor dem Haus zu warten.« Officer Mendina klang verärgert.
»Ich weiß, entschuldigen Sie. Haben Sie etwas gefunden?«
»Nichts. Sie ist nicht da. Allerdings gibt es auch keinerlei Anzeichen dafür, dass man sich Sorgen machen muss.«
»Ist ihr Bett benutzt? Es ist das blaue.«
»Nein, es scheint frisch bezogen zu sein.«
»Steht irgendwo ein Koffer oder eine Reisetasche herum?«
»Nichts dergleichen. Alles scheint an seinem Platz zu sein.«
»Haben Sie oben eine Katze gesehen?«
»Eine Katze?«
»Wahrscheinlich versteckt sie sich.«
»Ja, wahrscheinlich.« Officer Mendina zog Notizblock und Kugelschreiber heraus. »Gut. Wir müssen jetzt im Beisein von Zeugen einen Bericht schreiben, damit der Wohnungsinhaber weiß, dass wir hier gewesen sind.«
»Ich habe etwas gefunden, was merkwürdig ist. Abby hat gestern Abend nichts gegessen, obwohl ich nur wegen ihr noch einmal zum Supermarkt gefahren bin. Sie hatte einen solchen Hunger.«
Victoria verdrehte die Augen. »Gott steh mir bei«, murmelte sie.
Officer Mendina sah Jill verständnisvoll an. »Doktor Farrow, ich habe selbst eine zwanzigjährige Tochter, die nicht gerade viel isst. Die jungen Leute sind heute so. Von Mutter zu Mutter: Sie müssen sich keine Sorgen machen. Abby wird schon wieder nach Hause kommen.«
Wie gern hätte Jill ihr geglaubt. »Aber die Umstände, der Tod ihres Vaters, das alles ist so merkwürdig.«
Die Beamtin zuckte mit den Achseln. »Wenn Sie noch Fragen haben, kann ich sie gern an unsere Detectives weiterleiten. Die bekommen jede Leiche zu sehen, die auf dem Boden von Philadelphia entdeckt wird. Sie sind für den gesamten sechsten Bezirk zuständig und haben auch die Leiche Ihres Ex freigegeben.«
»Wissen Sie, an welchen von ihnen ich mich konkret wenden muss?«
»Nein.« Mendina löste ihren Bericht vom Block, legte ihn auf den Beistelltisch und gab Victoria den Schlüssel zurück. »Miss Skyler, vielen Dank für Ihre Mitarbeit. Wir haben nichts Verdächtiges entdeckt, aber seien Sie trotzdem froh, dass jemand wie Doktor Farrow sich um Sie beide kümmert.«
»Danke.« Victoria steckte den Schlüssel ein.
»Keine Ursache«, sagte Mendina und verließ mit ihrem Kollegen das Haus.
Sofort ging Victoria auf Jill los. »Hau ab. Geh endlich. Verschwinde wieder aus meinem Leben und aus dem von Abby.«
Jill versuchte die Fassung zu bewahren. »Ich wollte Abby nur helfen. Für dich würde ich das Gleiche tun.«
»Kein Bedarf.« Victorias Augen verengten sich. »Und jetzt gehst du also aufs Polizeirevier, untersuchst den angeblichen Mord meines Vaters und lässt dich von Abbys Verblödung anstecken, ja?«
»Ich untersuche überhaupt keinen Mord. Ich suche nur nach deiner Schwester. Und jetzt auf Wiedersehen. Ruf mich an, wenn Abby sich bei dir meldet.«
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