Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
in der Küche, beantwortete An rufe von Patienten und füllte Krankenblätter am Laptop aus. Sam saß im Wohnzimmer und las, Megan duschte im Obergeschoss. Die drei hatten bereits zu Abend gegessen.
»Neil war nicht zu Hause. Der Typ am Empfang hat ewig läuten lassen. Das Haus hat einen Pförtner.«
»Ihr habt die Wohnung also vom Foyer aus angerufen?«
»Ja, Wohnung D, vierter Stock. Aber niemand ist rangegangen.« Victoria klang emotionslos, fast geschäftsmäßig. Nicht im Geringsten zornig, was Jill als Fortschritt verbuchte.
»Wann warst du dort?«
»Gegen sechs, dann bin ich zum Abendessen gegangen. Um elf habe ich es noch einmal probiert, aber niemand hat geantwortet. Von Abby habe ich auch nichts gehört. Und du?«
»Nein.« Jill rieb sich die Stirn und räkelte sich auf ihrem Stuhl. Ein langer Tag mit Erkältungen, Grippeerkrankungen und Nebenhöhlenentzündungen, gegen die noch immer kein Kraut gewachsen war, lag hinter ihr. Besäße sie den Einfallsreichtum und die Hinterhältigkeit von Nebenhöhlenentzündungen, wüsste sie wahrscheinlich schon lange, wo Abby steckte. »Hat der Pförtner dir gesagt, wann sie ihn zurückerwarten?«
»Nein.«
»Wann hat ihn der Pförtner zuletzt gesehen?«
»Das hat er mir nicht gesagt.«
»Hat er Abby gesehen?«
»Auch keine Antwort.«
»Hast du nach ihr gefragt?«
»Ja. Aber er darf keine Auskunft darüber geben. Der Pförtner hat uns relativ schnell rausgeschmissen.«
»Wer ist uns?«
»Brian hat mich nach dem Essen begleitet.«
»Hast du am Empfang gesagt, dass es sich um einen Notfall handelt?«
»Das ist denen doch egal. Keine Infos über Hausbewohner oder Besucher.«
»Verstehe.« Jill wusste für den Moment nicht weiter. Die Spülmaschine lärmte, die geputzten Arbeitsplatten glänzten. »Dass Neil nicht zu Hause war, bedeutete nicht viel. Er kann sich mit Abby woanders aufhalten. Die Frage ist nur: Hat der Pförtner oder irgendein anderer Mieter Abby gesehen?«
Victoria schnaubte. »Den Kontakt zu anderen Mietern werden sie garantiert unterbinden.«
»Hast du eine Büroadresse von Neil?«
»Nein.«
»Weißt du, wie seine Firma heißt, falls er denn eine hat?«
»Keine Ahnung.«
Jill mochte den Gedanken nicht, der ihr jetzt kam, aber auch Neil könnte in Gefahr schweben, falls er und William krumme Dinger gedreht hatten. Und falls Abby bei ihm war, war sie genauso wenig sicher.
»Jill …« Victoria zögerte.
»Was?«
»Und wenn sie sich etwas angetan hat?«
»Was meinst du damit?«
»Na, Selbstmord.«
»Unsinn. Das würde sie nie tun.«
Victoria schwieg einen Augenblick. »Sie hat es schon einmal versucht.«
»Was?«
»Sie hat schon einmal versucht sich umzubringen.«
»Nein! Wann? Und wieso?«
»Das ist schon eine Weile her. Ungefähr drei Monate, nachdem ihr euch getrennt hattet. Sie hatte sich mit Dad ziemlich heftig gestritten.« Victoria zögerte. »Sie wollte, dass ihr beide wieder zusammenkommt. Aber die Ehe war ja bereits geschieden, und sie durfte auch deine Mails nicht mehr beantworten. Am nächsten Tag hat sie es probiert.«
Jill blutete das Herz. »Wie?«
»Mit Tabletten. Ein ganzes Fläschchen.«
»Was für welche?«
»Lexapro. Die nimmt sie immer noch. Wegen ihrer Depressionen. Deshalb soll sie auch nicht trinken.«
Wann Abby depressiv geworden war, brauchte Jill nicht zu fragen. Sie wusste es.
»Ich habe sie damals gefunden. Dad war auf Geschäftsreise, und ich habe nur zufällig zu Hause vorbeigeschaut. Zuerst habe ich gedacht, sie macht nur ein Nickerchen, aber sie ließ sich nicht aufwecken. Wenn ich nicht vorbeigekommen wäre, wäre sie wahrscheinlich … nicht mehr da.«
Wenn man ein ganzes Fläschchen Lexapro schluckte, dann wollte man sich wirklich umbringen. Das war mehr als nur ein verzweifelter Hilferuf gewesen, das wusste Jill.
»Deshalb war ich auch so sauer auf dich.« Victorias Stimme wurde ein wenig weicher. »In meinen Augen warst du an ihrem Selbstmordversuch schuld. Du warst schuld, dass sie nichts mehr auf die Reihe kriegte. Wärst du nicht weggegangen, ginge es ihr heute noch gut, und ich müsste sie nicht die ganze Zeit bemuttern.«
Jill wollte nicht glauben, was sie da hörte. Dass Abby so etwas tun könnte, hätte sie nie vermutet. Ihr Schmerz musste sehr tief gewesen sein.
»Ich will mir um sie keine Sorgen mehr machen, und trotzdem tue ich genau das den ganzen Tag. Denn wenn sie es wieder versucht, bin ich diesmal daran schuld …« Victorias Stimme brach ab.
»Dass so etwas
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