Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
»Abby wird noch immer vermisst. Sie ist selbstmordgefährdet. Ich mache aus einer Mücke keinen Elefanten.«
»Aber das alles sind nicht deine Probleme.«
»Doch, das sind sie. Schließlich war ich an ihrer Entstehung beteiligt.«
»Das stimmt nicht«, sagte Sam bestimmt.
»Gut, hier gehen unsere Meinungen also auseinander. Fakt ist, ihre Eltern sind tot. Wer wird sich jetzt um sie kümmern?«
»Und wer kümmert sich um Megan, während du in New York bist?«
Sams Gegenfrage war ein Schlag unter die Gürtellinie. »Was hat Megan damit zu tun? Sie geht morgen in die Schule und danach zum Training. In Manhattan bin ich in zwei Stunden. Spätestens um fünf bin ich wieder zurück, selbst wenn ich mit dem Zug fahre.«
Sam schüttelte den Kopf. »Und ich hatte nach dem gestrigen Tag gedacht, dass du die Finger von der Sache lässt. Aber nein, im Gegenteil.«
»Ich kann mich nicht aus der Verantwortung stehlen.« Jill wurde laut. Sam tat das nie. Sein Zorn äußerte sich höchstens in einer Art akademischer Konsterniertheit.
»Megan braucht dich.«
»Wann denn? Wenn ich sonst freihabe, mache ich Besorgungen, beantworte Anrufe und Mails, während Megan in der Schule ist.« Jill erzählte Sam nicht, dass sie ihre freien Tage schon seit einiger Zeit nicht mehr genießen konnte. Es fühlte sich an, als würde sie es nicht mehr verdienen, nur in Teilzeit zu arbeiten.
»Ich verstehe. Du kümmerst dich also voll und ganz um Abby, und wir können sehen, wo wir bleiben.« Sam schleuderte seine Lesebrille auf den Tisch. So aufgeregt hatte sie ihn noch nie gesehen.
Jill stöhnte auf. »Das ist nicht fair. Ich kümmere mich genauso viel um Megan. Multitasking ist das Stichwort. Jede Mutter beherrscht das.«
»Und was ist mit mir?« Sams blaue Augen starrten sie an. »Komme ich mit meinen Wünschen in deinen Plänen überhaupt noch vor? Oder ist meine einzige Aufgabe, das Feuer im Herd nicht ausgehen zu lassen, während du außer Haus bist?«
»Brauche ich jetzt deine Erlaubnis, um nach New York zu fahren?« Jill fand Sams Verhalten unmöglich.
»Nein. Aber du denkst die Sachen nicht durch. Du reagierst nur noch.«
»Weil es ein Notfall ist. Abby könnte sich umbringen.«
»Nehmen wir mal an, du findest sie. Kommt sie dann mit uns nach Austin?«
Das hatte Jill ganz vergessen. Am nächsten Wochenende wollten sie Steven besuchen. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Solltest du aber. Denn du hast auch einen Stiefsohn. Oder zählt der plötzlich nicht mehr?«
»Unsinn.«
»Gehen wir also davon aus, du findest Abby. Was dann?« Sam hob fragend beide Hände. »Hilfst du ihr dabei, wieder auf eigenen Füßen zu stehen?«
»Wahrscheinlich.« So weit hatte Jill noch nicht vorausgedacht.
»Du willst also nicht, dass sie bei uns einzieht?«
Jill schwieg, Sam ließ sie nicht aus den Augen.
»Sag es.«
Jill spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. »Das weiß ich noch nicht.«
»Ich wusste es.« Sam schüttelte den Kopf. »Aber gut, es ist dein Haus.«
Jill wollte die alte Wunde nicht wieder aufreißen. »Du bist hier eingezogen, weil wir beide wollten, dass Megan nicht schon wieder umziehen muss. Bedauerst du das jetzt?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich würde alles für Megan tun, aber für Abby? Nein.« Sam kniff die Lippen zusammen. »Bekommt Abby dann Stevens Zimmer?«
»Was willst du von mir, Sam? Dass ich sie aus meinem Leben streiche? Dass ich mich zwischen ihr und dir entscheide?«
»Ich kann dir nur sagen, was ich nicht will. Ich will kein Kind mehr. Und dieses Kind schon tausendmal nicht. Ich habe es dir mehrmals gesagt, aber dir scheint das egal zu sein. Ich will keine Frau heiraten, die alles allein bestimmt.«
»Dann lass es.«
»Gut, dann lass ich es«, gab Sam zurück, und für einen Augenblick hingen die letzten Worte wie ein Damoklesschwert über ihnen.
Jill war zu wütend, um klein beizugeben. Keiner wagte es, dem anderen in die Augen zu sehen.
»Ich schlafe heute im Labor.« Sam drehte sich um und verließ die Küche. Beef stellte die Ohren auf und sah ihm fassungslos nach, dann wanderte sein Blick zu ihr.
Jill spürte Tränen der Wut in sich aufsteigen, blinzelte sie aber fort.
32
Jill stand mit Beef im Garten und versuchte nicht an Sam zu denken. Er hatte weder angerufen noch ihr eine Nachricht geschrieben, allerdings hatte sie sich auch nicht gemeldet. Sie wusste nicht, ob er all seine Worte ernst gemeint hatte, und genauso wenig wusste sie, wie es mit ihren Worten aussah.
Gut,
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