Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
kämpfenden Ficus. Hier bewahrte sie auch ihre Diplome und medizinischen Lexika auf. Sie verbrachte so wenig Zeit wie möglich in dem Raum. Sie mochte ihre Patienten, aber nicht mehr die Arbeit hier, hauptsächlich wegen Sheryl. »Was gibt’s?«
»Es geht um Ihre Arbeitsstatistik. Dass Sie nur Teilzeit arbeiten, habe ich schon berücksichtigt.« Sheryl presste die Lippen zusammen. Ihre Augen waren dunkelbraun, ihre Gesichtszüge weich wie die eines Babys, aber ohne deren Liebreiz. »Ich habe John eine Mail geschickt. Sie hatten im letzten Quartal in der Regel nur achtzehn bis zwanzig Patienten am Tag.« Sheryl zog einen Ausdruck aus dem Ordner. »Das sind zehn beziehungsweise zwölf weniger als der Durchschnitt. Jeder Arzt hat sich an unsere Vorgaben zu halten, auch Sie.«
»Es geht hier um Menschen, nicht um Zahlen. Aber wenn Sie schon vom Durchschnitt reden, das Durchschnittsalter meiner Patienten ist zwei.« Jill hatte ihr das schon oft erklärt. »Ich bin der einzige Kinderarzt hier, und ich brauche deshalb länger, weil Babys mir leider nicht sagen können, wo es ihnen wehtut.«
»Das ist nicht witzig.«
»Das sollte auch kein Witz sein. Ich meine es ernst.«
»Zahlen lügen nicht. Sie nehmen sich zu viel Zeit. Sie sollten sich eine Grenze setzen. Fünf, maximal zehn Minuten pro Patient, zwanzig nur bei der jährlichen Untersuchung. Aber bei Ihnen ist jeder Patient zwanzig Minuten im Sprechzimmer, wenn nicht noch länger.«
»Jetzt kommen Sie schon, Sheryl. Kinderärzte arbei ten anders als Ärzte für Erwachsene.« Auch das hatte Jill ihr schon mehrmals erklärt. »Zu mir kommen immer zwei Menschen in die Sprechstunde, das Kind und ein Elternteil. Ich möchte beiden gerecht werden, mehr nicht.«
Sheryl zeigte auf die Tür. »So wie sie mit Mrs. Fitzmartin grad einen Plausch gehalten haben?«
Jill musste fast lachen. »Schuldig im Sinne der Anklage. Was wollen Sie eigentlich? Ich bin nur freundlich zu den Patienten.«
»Mrs. Fitzmartin ist nicht Ihre Patientin.«
»Aber ich mag sie, darf ich das etwa nicht? Wenn gleichzeitig meine Patienten warten müssten, wäre es etwas anderes. Eine gute ärztliche Versorgung schließt für mich auch gute menschliche Beziehungen mit ein. Statistik ist für mich nicht alles.«
Sheryl zog die Augenbrauen hoch. »Sie halten sich an keine einzige Regel unseres Ärztezentrums.«
»Was erzählen Sie da?«
»Zum Beispiel beantworten Sie Anfragen per E-Mail.«
Jill war irritiert. »Woher wissen Sie das?«
»Wir kontrollieren den E-Mail-Verkehr.«
Jill zuckte zusammen. »Sie lesen meine E-Mails?«
»Das sind nicht Ihre E-Mails. Das sind die E-Mails des Ärztezentrums, und es ist meine Aufgabe, sie zu überprüfen.«
»Seit wann?« Jill hätte es ahnen müssen. »Was geht es Sie an, ob ich eine Mail beantworte? Wegen der entgangenen Behandlungsgebühren?«
»Auch das hier ist ein Geschäft, Jill. Unbezahlte Rat schläge per Telefon oder Mail sind nicht in unserem Angebot. Sie sind der einzige Arzt, der seine interne Mailadresse herausgibt, was nicht erlaubt ist. Alle Mails von Patienten müssen zunächst an mich geschickt werden.«
»Und ich erhalte sie dann drei Tage später.«
Sheryls Blick wurde unangenehm. »Es kann zu Gerichtsverfahren kommen, wenn Ihre Anweisungen missverstanden werden oder Sie mit Ihrer Ferndiagnose falschliegen.«
»Aber ich verschreibe nur etwas, wenn ich den Patienten vorher gesehen habe. Akute medizinische Probleme löse ich nicht per Telefon.« Jill hatte das ewige Gerede über mögliche Gerichtsverfahren gestrichen satt. Berge von Ordnern mit Anweisungen bei einer möglichen Klage lagerten in ihrem Büro – und das war nur ein kleiner Teil des Papierkrams, der von den Versicherungen kam. »Aber ich muss per Telefon oder Mail erreichbar sein. Sie können einer Mutter nicht raten, sich einfach keine Sorgen zu machen und bis zum nächsten Termin zu warten, wenn ihr Baby krank ist.«
»Sie schaden nur sich selbst – und das wissen Sie. Sie könnten viel mehr verdienen.«
»Wäre Geld das Einzige, was für mich zählt, würde ich in der kosmetischen Chirurgie arbeiten.«
Sheryls Augen verengten sich. »Sie machen aus allem einen Witz.«
»Im Gegenteil. Ich nehme meine Patienten und meine Praxis sehr ernst. Aber ich versuche einem schlechten Betriebsklima mit Humor entgegenzuwirken, was mir gerade offensichtlich misslingt.«
»Ich bin ein humorvoller Mensch.«
»Tatsächlich?« Jill lächelte, während Sheryl eine saure Miene
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