Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
zog.
»Sie halten sich für etwas Besonderes.«
»Das bin ich auch, weil ich der einzige Kinderarzt hier bin.«
»Aber Sie sind nicht die Einzige, die nicht Vollzeit bei uns arbeitet.
»Ich arbeite nur Teilzeit, weil ich mich auch um meine Tochter kümmern will. Ich liebe Kinder, übrigens auch meine eigenen.«
»Jill, Megan ist dreizehn. Sie müssen sie nicht mehr auf den Spielplatz begleiten. Ich bin sicher, Sie würden Vollzeit arbeiten, wenn Sie sich unserem Zentrum verpflichtet fühlten.«
»Ich fühle mich meiner Familie verpflichtet, okay?« Jill bemerkte, wie sie errötete. »Ich habe einen Teilzeitvertrag abgeschlossen, als ich hier anfing, und trotzdem ist es manchmal nach acht, wenn ich nach Hause komme.«
»Jeder Arzt hier hat einen langen Arbeitstag.«
»Das weiß ich«, sagte Jill, obwohl sie eigentlich nie einen ihrer vier Kollegen sah. Jeder von ihnen hatte seine eigene Praxis, Zeit blieb dabei nur, um mit Sheryl zu kommunizieren, nicht miteinander. »Ich bin die einzige Ärztin hier, die einzige Mutter.«
»Sie sehen sich also doch als etwas Besonderes.«
Jill wurde ungeduldig. »Hören Sie, ich muss ein paar Krankenblätter ausfüllen, und dann kommt auch schon Carrie Bryson mit ihrem Zweijährigen, der Hautausschlag hat. Sie hat mir gestern Abend gemailt, nachdem sie hier niemanden erreicht hat.« Jill fasste sich wieder. »Aber das wissen Sie vermutlich alles schon.«
»Ja, und ich weiß auch, dass Sie ihr versprochen haben, sie heute Morgen dazwischenzuschieben.« Sheryl runzelte die Stirn. »Termine macht nur Donna.«
»Ich habe Donna gemailt.«
»So läuft das hier aber nicht. Wenn die Sekretärin nicht weiß, dass Carrie kommt, können wir ihre Akte auch nicht bereitlegen und so nicht garantieren, dass ihr Arztbesuch ordentlich registriert und berechnet wird. Jedes Prozedere hat einen tieferen Sinn.«
»Aber ich kann Donna nicht mitten in der Nacht anrufen. Manchmal behindern Ihre Regeln auch unsere Arbeit mit den Patienten. Und dafür sind wir doch eigentlich hier.«
Jills Handy läutete. Das musste Abby sein. Es war keiner der Klingeltöne, den sie für Megan und Sam eingestellt hatte. Jill hüpfte das Herz voller Vorfreude. »Entschuldigung, aber ich muss das Gespräch annehmen.«
Sheryl stakste davon. »Fassen Sie sich kurz«, blaffte sie, bevor sie die Tür von außen schloss.
»Jill, ich bin’s, Victoria. Ich rufe von zu Hause aus an. Hast du etwas von Abby gehört?«
»Nein.« Jill registrierte, dass Victorias Stimme nicht gerade freundlich, aber auch nicht so feindlich klang wie am Tag zuvor. »Sie hat mich nicht zurückgerufen.«
»Mich auch nicht.« Victoria machte eine Pause. »Das ist eigentlich nicht ihre Art. Nach meiner letzten Nachricht hätte sie sich normalerweise gemeldet.«
»Wieso? Was hast du gesagt?«
»Ich habe sie angebrüllt.«
Jill konnte sich das lebhaft vorstellen. »Warst du noch mal im Haus?«
»Ja. Niemand da.«
»Und die Katze?«
»Die mysteriöse Katze habe ich noch nie gesehen.«
Jill sank auf den Stuhl und sah sich in ihrem Büro um, schließlich blieb ihr Blick an der elenden Topfpflanze hängen. »Hast du irgendeine Idee, wo sie stecken könnte?«
»Nicht die geringste.«
»An wen könnte sie sich gewendet haben?«
»Keine Ahnung.«
»Vielleicht an Neil Straub?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht.« Victoria schien Mut zu fassen. »Aber ich habe seine Telefonnummer nicht.«
»Ich habe seine Adresse. Er wohnt in Manhattan. Morgen ist mein freier Tag, ich könnte hinfahren.«
»Nein, ich bin eh heute Abend in der Stadt zum Essen.«
»Lass mich das lieber machen. Es könnte gefährlich sein.« Den Zusatz »Mein Schatz« verkniff sie sich im letzten Moment. »Falls Neil irgendetwas mit dem Tod deines Vaters …«
»Jetzt geht das schon wieder los.« Victorias Stimme wurde kalt. »Es reicht. Hör auf damit.«
»Bitte, lass mich gehen. Auf den einen Tag kommt es doch nicht an.«
»Dad ist nicht ermordet worden, Neil war sein bester Freund, und ich bin kein kleines Mädchen mehr. Gib mir seine Adresse.«
Jill tat es. »Sag mir aber Bescheid, wenn es etwas Neues gibt. Meine Handynummer hast du ja.«
»Bis dann«, sagte Victoria und legte auf.
Wenn Victoria zu Neil Straub ging, musste Jill sich eventuell auch um sie Sorgen machen. Schlagartig und unverhofft war sie binnen wenigen Tagen wieder Mutter dreier Sorgenkinder geworden.
30
»Was ist passiert?«, fragte Jill, als Victoria sie auf ihrem Handy zurückrief. Jill saß
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