Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
»Manchmal kommen wir mit unserer Augenblicksdiagnose an einen Punkt, wo Zweifel an ihr angebracht sind. Sie verstehen?«
»Schon. Meine Familie beeinflusst mich da etwas.«
»Dazu sind Familien auch da. Halten Sie Rahul jetzt fest, ich mache auch schnell.« Jill rieb Rahuls Arm mit einem Antiseptikum ein, band einen Stauschlauch darum, setzte eine Butterfly-Kanüle auf die Spritze und führte sie in die Vene ein.
» AUAAAAA !«
»Ich weiß, Rahul.« Jill zog den Kolben hoch und wartete, bis sich genug Blut im Hohlraum der Spritze angesammelt hatte. Dann löste sie den Stauschlauch, zog die Nadel heraus und bedeckte die Wunde mit einem Verband aus Baumwolle. »Was für ein tapferer Junge!«
»Es ist alles wieder gut, mein Schatz.« Padma wiegte ihren weinenden Sohn.
»Das haben Sie gut gemacht, Padma. Und morgen haben wir das Ergebnis. Wann können Sie kommen?«
»Am besten morgens, wenn seine Brüder in der Schule sind.« Padma wischte dem Kleinen, der herzzerreißend schluchzte, die Tränen von der Wange.
»Armer kleiner Mann.« Jill streichelte sein Gesicht. »Dann sehen wir uns um neun. Ich sage Donna Bescheid.«
Sie verabschiedete sich und ging zum Empfang, wo Donna gerade ein Gespräch beendete. »Donna, können Sie Rahul Choudhury für morgen um neun eintragen? Ich komme wegen ihm extra rein.«
»Sie meinen Rahul, das süßeste Baby der Welt?« Donna tippte seinen Namen ein. »Aber selbstverständlich.«
»Danke.« Jill lächelte, während Sheryl aus ihrem Büro kam. Allen Mitarbeitern war wohl aufgefallen, dass Selena nicht mehr da war, denn alle blickten von ihren Akten und Computern auf in Erwartung dessen, was nun zwischen Jill und Sheryl passieren würde.
»Jill, haben Sie das Labor geschlossen?«, fragte Sheryl leise, damit niemand im voll besetzten Wartezimmer sie verstehen konnte.
»Ja«, antwortete Jill ebenfalls leise. »Selenas Mutter ist todkrank. Ihre Tochter sollte bei ihr sein. Das verstehen Sie sicherlich.«
»Das tue ich, aber trotzdem muss der Laden hier laufen.«
»Das sehe ich genauso. Ich kann Blut abnehmen wie alle meine anderen Kollegen hier. Ein bisschen unbezahlte Mehrarbeit wird uns schon nicht schaden, oder?« Jill und ihre Kollegen und Kolleginnen lächelten.
»Ich werde mit John über die Sache reden.« Sheryl machte auf dem Absatz kehrt. Donna konnte sich wie alle anderen ein Grinsen nicht verkneifen.
»Wunderbar, vielen Dank!« Jill kehrte zu ihrer Arbeit zurück. Nach zwei Erkältungen, einer weiteren Ohrenentzündung und einem gebrochenen Zeh tauchte John Gilbert, der Leiter des Ärztezentrums, in ihrem Zimmer auf. Gilbert war Mitte fünfzig, trug eine Hornbrille und eine rot-blaue Krawatte. Er sah aus wie ein Vertreter. Der Internist nahm sie zur Seite.
»Was ist mit Selena los, Jill?«
»Ihre Mutter ist in ein Hospiz gekommen. Ich habe sie zu ihr geschickt. Schließlich sind wir Ärzte. Wenn wir kein Mitgefühl mit den Leidenden haben, wer dann?«
»Hier geht es nicht um Mitgefühl.« John runzelte die Stirn. »Sheryl kümmert sich um die Personalangelegenheiten, nicht Sie.«
»Natürlich, aber Selena war so neben sich. Sie hat deshalb sogar schon eine Blutprobe einer meiner Patienten vergessen. Was wollen Sie? Nach Sheryls Pfeife tanzen oder verklagt werden?«
»Gute Frage. Aber ich werde kein Blut abnehmen. Zum einen habe ich das seit neun Jahren nicht mehr getan, und zum anderen habe ich schlichtweg nicht die Zeit dafür. Niemand von uns hat sie.«
»Dann schicken Sie Ihre Patienten eben zu LabCorp. Die sind nicht weit entfernt.«
»Aber unsere Patienten sind solche Unbequemlichkeiten nicht gewohnt.«
»Das Labor ist fast nebenan, John. Die sollen sich nicht so haben.« Jill dachte an Rahul. »Ich brauche so schnell wie möglich die Ergebnisse einer Blutuntersuchung. Könnten Sie mir dabei helfen?«
»Das geht nicht so einfach.«
»Muss es aber. Bei Babys kann es schnell bergab gehen.«
»Okay, ich habe verstanden.« John hob die Hände hoch. »Sagen Sie Donna, sie soll Charlotte anrufen. Sie wird sich darum kümmern.«
Jill bedankte sich und eilte den Flur entlang. Ob sie ihren Boss verärgert hatte? Aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn auf sie wartete noch eine ganze Reihe Patienten. Außerdem wollte sie rechtzeitig Feierabend machen. Anschließend wartete noch ein Corgi-Welpe auf sie.
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Auf der Hauptgeschäftsstraße von Hoboken gab es Weinbars, schicke Coffee-Shops, griechische Restaurants und hippe Boutiquen neben
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