Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
Schließlich habe ich das auch mal gelernt. Und was ist schon dabei, wenn wir einen Teil unserer Patienten für die Blutuntersuchungen zur LabCorp schicken?«
»Ärzte können tatsächlich Blut abnehmen?«
»Ja. Manchmal sind wir geschickter, als wir aussehen. Jetzt mach dich aber auf den Weg.« Jill klebte den Zettel an die Labortür und verabschiedete sich von Selena.
Im Untersuchungszimmer warteten schon Padma und Rahul auf sie. Rahul saß in seiner Windel auf dem Untersuchungstisch und spielte mit den Autoschlüsseln seiner Mutter.
»Padma, entschuldigen Sie, aber Rahuls Blutprobe ist verloren gegangen. Wir müssen ihm noch einmal Blut abnehmen. Diesmal werde ich es tun.«
»O nein.« Padma fuhr sich durch ihre glänzenden Haare. Sie wirkte gestresst, ihr Sweatshirt war voller Knitterfalten, was ungewöhnlich war. »Ich will ihm das nicht noch einmal antun. Er hat so geweint.«
»Ich weiß, ich weiß.« Jill nahm das Stethoskop vom Hals und ging zu Rahul. Er sah nicht besser aus. Die drei Tage mit Amoxicillin hatten anscheinend nichts gebracht. Zudem hatte ihr die Krankenschwester gesagt, dass er knapp ein halbes Pfund weniger wog als noch am Samstag. »Und wie geht es Ihrer Mutter?«
»Besser. Mein Bruder hält es übrigens für arg übertrieben, bei einer Ohrenentzündung Blut abzunehmen.«
»Das ist es nicht immer. Glauben Sie mir. Und was sagt unser Rahul dazu?« Jill kitzelte sein nacktes Bäuchlein, das sich warm anfühlte. Er lächelte nicht so viel wie sonst, aber es bahnte sich auch ein zweiter Zahn seinen Weg durchs Zahnfleisch. »Gut gemacht, mein großer Junge! Bald hast du schon zwei Beißerchen.«
»Gsssmmm«, antwortete Rahul sabbernd. Zumindest war er nicht dehydriert.
»Jetzt hören wir dich mal ab.« Jill wärmte das Stethoskop in ihrer Hand an und horchte seine Brust ab. Das Herz schlug schnell, die Geräusche, die von seiner Infektion stammten, waren noch da. Seine Temperatur lag bei 38,3. Zu lange schon.
»Und Sie meinen wirklich, dass Sie ihm ein zweites Mal Blut abnehmen müssen?«
»Ja, leider.« Jill tastete Rahuls Hals ab, die Lymphknoten waren noch geschwollen, Ohren, Nase und Hals waren vereitert. Manch ein Kinderarzt hätte gesagt, dass Rahul einfach nicht auf Amoxicillin ansprach, aber Jill hasste diese Formulierung. So wurde den kleinen Patienten insgeheim unterstellt, dass sie die Schuld am Misslingen der Behandlung trugen. »Es ist seit Samstag nicht besser geworden. Ich denke, wir probieren es mal mit einem anderen Antibiotikum.«
»Machen Sie, was Sie für richtig halten.«
»Wir nehmen diesmal Augmentin.«
»Meine Schwägerin war gestern Abend zum Essen bei uns. Sie sagt, wir sollen es mal mit Ohrdrainagen versuchen.«
»Darüber reden wir, wenn wir die Untersuchungsergeb nisse haben, einverstanden? Ich schreib einen Dringlich keitsvermerk drauf, sodass sie morgen da sind.« Jill sah sich Rahuls Haut an. Das Ekzem war nicht größer geworden, aber auch nicht kleiner. »Isst und trinkt er?«
»Es geht.«
»Schläft er?« Jill sah in die Windel, die trocken war.
»Wie immer.«
Jill stellte das Rezept aus und gab es Padma. »So, und jetzt zur Blutabnahme. Ich verspreche, dass die Probe nicht verloren gehen wird.« Sie bereitete die Spritze vor. »Halten Sie ihn, oder soll ich eine Schwester rufen?«
»Das mache ich.« Padma umarmte den kleinen Rahul, der gluckste und wieder mit den Autoschlüsseln spielte. »Er hat das letzte Mal so schlimm geweint. Warum soll er ohne Grund noch einmal so gequält werden?«
»Aber wir haben doch einen Grund. Ich will endlich die Ursache für die Entzündungen herausfinden.«
»Alle Kinder bekommen Ohrenentzündungen. Die einen häufiger, die anderen seltener. Habe ich nicht recht?«
»Schon. Aber Rahul ist ziemlich anfällig. Das macht mir Sorgen. Und vergessen Sie nicht seine Lungenentzündung.«
»Die Ohren meines Neffen haben sich in seinem ersten Jahr acht Mal entzündet. Das ganze Jahr über hat man ihm Amoxicillin gegeben. Seinen Kaugummi-Drink, so haben wir es genannt.«
»Ihr Neffe ist Ihr Neffe. Und Rahul ist Rahul. Wir wissen zwar, dass er eine Ohrenentzündung hat, aber nicht, woher sie kommt. Das müssen wir herausfinden.«
Padma hielt ihr Baby im Arm und schüttelte den Kopf. »Ich hasse das.«
»Padma, wollen wir nicht beide sicher sein? Wir haben zwar eine Erklärung für seine Anfälligkeit, aber ob sie die richtige ist?« Jill blickte in ihre dunklen Augen. Sie glaubte, Padma umstimmen zu können.
Weitere Kostenlose Bücher