Die zweite Todsuende
die Akten enthielten, die der Stellvertretende Commissioner Thorsen ihm geschickt hatte. Der Kritiker, obwohl um einen maßvollen Ton bemüht und auf Unvoreingenommenheit bedacht, war des Lobes voll. Victor Maitland habe der Technik der großen italienischen Meister frisches Leben eingehaucht, den Marotten und Modeströmungen der Moderne den Rücken gekehrt, sei seinen eigenen Weg gegangen und habe den traditionellen Stil der Malerei mit einer Inbrunst und einer Leidenschaft erfüllt, wie man sie seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt habe.
Delaney verstand nicht alles, was er da las, doch teilte er die Bewunderung, ja den heiligen Schauder, der den Kritiker angesichts von Maitlands Werken packte. ‹Heiliger Schauder› stand da wörtlich. Delaney reagierte so positiv, weil genau das die Empfindung gewesen war, die auch ihn packte, als er die rohen Skizzen in Maitlands Atelier betrachtete. Nicht nur heiliger Schauder ob des Talents, das dieser Mann besessen hatte, sondern auch Verblüffung und eine Art Schrecken angesichts einer Schönheit, von der er nicht gewußt hatte, daß es sie überhaupt gibt.
«Endlich», schloß der Kritiker, «hat Amerika einen Maler allerersten Ranges, der seine Kunst ganz dem Bemühen widmet, das Leben zu feiern.»
Allerdings nicht lange, dachte Delaney dumpf. Im Stehen, um die großformatigen Illustrationen besser sehen zu können, blätterte er langsam die Seiten mit den Bildern von Victor Maitland um.
Er blätterte sie zweimal durch, kehrte ein drittes Mal zu bestimmten Bildern zurück, deren einige ihn ganz besonders angerührt hatten. Dann klappte er das Buch behutsam zu und trat vom Schreibtisch weg. Er sah sein Sandwich und das Bier unberührt stehen, setzte sich in einen Sessel und aß und trank sehr nachdenklich. Das Bier war mittlerweile etwas warm und schal geworden, doch das kümmerte ihn nicht weiter.
In Sachen Kunstbetrachtung und Kunstgenuß war er ungeschult, ein Laie. Er gab sich da keinerlei Illusionen hin. Aber er liebte Bilder und Plastiken und die kühlen, imponierenden Ausstellungsräume, die Üppigkeit von Goldrahmen, die Eleganz marmorner Sockel. Er hatte versucht, sich zu bilden, indem er kunstgeschichtliche und kunstkritische Bücher las, fand jedoch die Sprache, in der sie abgefaßt waren, zumeist dermaßen abstrus, daß er argwöhnte, die Verfasser wollten die Uneingeweihten benebeln und verwirren. Allerdings mochte der Fehler auch bei ihm liegen, an seiner Unfähigkeit, Kunsttheorien zu begreifen und den prätentiösen Thesen von Kubisten, Dadaisten, Abstrakten und all den anderen ‹Schulen› in der Kunst zu folgen, die einander in so rascher und erschreckender Folge ablösten.
So blieb ihm nichts übrig, als sich auf sein eigenes Auge und den eigenen Geschmack zu verlassen, auf das vielgeschmähte Klischee: ‹Ich weiß, was mir gefällt, wenn ich es sehe›, und er spürte dabei vage, daß es ebenso auf den Metzger zutraf, der seine Freude an gemalten Sonnenuntergängen auf schwarzem Samt hatte, wie auf den engagierten Kritiker, der hochtrabend von asymmetrischer Spannung, ovularer Erstarrung und außengeleiteter Verkrustung schwafelte.
Delaney mochte Bilder, auf denen etwas zu erkennen war. Ein Akt war ein Akt, ein Apfel ein Apfel und ein Haus ein Haus. Technisches Können fand er fesselnd und würdigte es; der Faltenwurf von Seidenstoffen auf den Gemälden von Ingres versetzte ihn in Entzücken. Technisches Können allein genügte jedoch nicht. Um ihm ganz und gar zu gefallen, mußte ein Bild ihn anrühren, mußte der Blick auf enthülltes Leben ihn bestürzen. Schön brauchte ein Bild nicht unbedingt zu sein; nur wahr. Dann war es auch schön.
Als er auf seinem Roastbeef-Sandwich herumkaute und an seinem schal gewordenen Bier nippte, kam ihm die Einsicht, daß die meisten von Victor Maitlands Bildern wahr waren. Das sah Delaney nicht nur, das spürte er. Wenige Stilleben, ein oder zwei Porträts und etliche Stadtansichten. Maitland hatte vor allem weibliche Akte geschaffen. Junge Frauen und Greisinnen, unschuldige Mädchen und alte Vetteln. Manches daran war ohne Zweifel häßlich, alles aber zeugte ausnahmslos von dieser ‹Feier des Lebens›, die dem Kritiker aufgefallen war.
Das jedoch war es nicht, was Delaney an Maitlands Werk am meisten beeindruckte, es war vielmehr die Auffassung des Künstlers, die Art, wie er sein Talent anwendete. Es lag darin etwas Getriebenes, fast etwas Wahnsinniges. Es war, dachte Delaney, ein übermenschliches
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