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Die zweite Todsuende

Die zweite Todsuende

Titel: Die zweite Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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vier Stücke dann mit durchsichtigem Klebestreifen zusammengeklebt und unter Glas geglättet worden. In einer Ecke eine hingekritzelte, aber leserliche Signatur: Victor Maitland.
    «Ein Maitland-Original», sagte Delaney.
    Es war die mit harten Strichen rasch hingeworfene Zeichnung einer laufenden Frau. Der Kopf im Profil. Schwellende nackte Brüste und ein üppiges Gesäß, eingefangen in einer einzigen anmutigen s-förmigen Linie, ausgeführt mit Zeichenkohle. Eine Andeutung von hochgereckten Knien, flammendem Haar, alles strotzend vor Leben, Bewegung, dem Reiz der Jugend und ungebrochener Vitalität.
    «O nein», sagte Jake Dukker. Sie drehten sich um und sahen ihn an. Ein signierter Maitland. Aber ein original Dukker!»
    Als er die Verblüffung in ihren Gesichtern las, bleckte er wieder die Zähne: ein Pirat. «Kommen Sie hierher», bedeutete er ihnen.
    «Ich erklär's Ihnen.»
    Sie folgten ihm in eine Ecke des Ateliers, ein an drei Seiten geschlossenes Geviert aus Lochpappe. Daran festgepinnt waren Fotodrucke und Kontaktabzüge, Skizzen, Ausschnitte aus Zeitungen und Illustrierten, Schriftsatzmuster, verwischte Fotos, Farbmuster von Papier und Stoffen. Beherrscht wurde der kleine Raum von einem Zeichentisch mit verstellbarer Platte, langer Reißschiene, Bechern mit Bleistiften, Öl- und Pastellkreiden, Geodreiecken aus Plastik und Kurvenlinealen, einer Dose mit Flüssigkleber, einem abgenutzten Behälter voll Wasserfarben und überquellenden Aschenbechern.
    Hinter dem Zeichentisch, dem Fenster gegenüber, stand eine robuste Werkbank. Darin eingeklemmt ein sonderbarer Apparat: ein Prisma am Ende eines mit Gelenken versehenen Chromarms, zwischen einem vertikalen und einem horizontalen Zeichenbrett.
    «Sehen Sie das hier?» fragte Dukker. «So was nennt man eine Camera lucida, kurz Lud genannt. Eine Art visueller Storchenschnabel. Mal angenommen, Sie möchten einen Akt zeichnen. Sie fotografieren eine nackte Frau und stellen einen Achtmalzehn-Abzug her. Den pinnen Sie an das vertikale Brett. Dann schauen Sie durch das Prisma am Ende des Gelenkarms. Sie sehen das Foto und gleichzeitig auch den flach daliegenden Zeichenblock. Sie können das Foto mit Blei, Feder oder Kreide, Holzkohle, Pastellkreide oder was weiß ich sonst noch nachziehen. Dann haben Sie eine echte Zeichnung.»
    Sie sahen ihn an und brachen in Lachen aus.
    «Lachen Sie nicht», sagte er. «Es braucht viel zuviel Zeit und Aufwand, wenn man so arbeiten will wie früher, mit Sitzungen und allem. Selbst wenn der Künstler oder Illustrator Talent hätte und es überhaupt könnte. Die meisten haben ja gar nicht mehr das Zeug dazu. Aber was ich sagen wollte: Eines Abends war ich dabei, ein Gruppenbild mit meiner Lud nachzuzeichnen, als stinkbesoffen Maitland auftauchte. Er fängt an, mich wüst zu beschimpfen - ich sei ein Klempner, könne keine anständige Linie zeichnen, sei ein jämmerlicher Stümper und so weiter und so fort. Er hat wirklich kein gutes Haar an mir gelassen.»
    Dukker verstummte und starrte auf das leere Zeichenbrett. Dann stieß er einen Seufzer aus und fuhr fort:
    «Endlich reichte es mir, und ich sagte: ‹Du Scheißer, das laß ich mir von dir nicht bieten. Ich kann besser zeichnen als du, und um das zu beweisen, werde ich jetzt einen originalen Victor Maitland machen, dessen Echtheit jeder Kunstexperte in der Welt beschwören wird.› Er lachte, aber ich griff nach einem Zeichenblock und einem Stück Holzkohle und legte die Zeichnung hin, die Sie dort sehen: den laufendem Akt. Victor war ein schneller Arbeiter, aber ich bin noch schneller. Ich bin Spitze. Es kostete mich nicht mehr als drei Minuten, dann zeigte ich ihm das Blatt. Er sah es an, und ich glaubte, er würde mich umbringen. Ich hatte ehrlich Schiß. Er wurde leichenblaß, seine Hände fingen an zu zittern. Ich hab wirklich gedacht, jetzt wird er gewalttätig. Es brauchte ja nie viel, ihn soweit zu bringen, daß er aus der Haut fuhr. Ich sah mich nach etwas um, womit ich mich hätte wehren können. Nur mit meinen Fäusten wäre ich diesem Wahnsinnskerl niemals gewachsen gewesen; der hätte mich zu Brei geschlagen.»
    Dukker hielt inne und kratzte sich zwischen den Beinen; dabei blickte er nachdenklich zur Decke.
    «Dann riß er meine Zeichnung in vier Teile und warf mir die ins Gesicht. Ich bot ihm zu trinken an, und später an diesem Abend klebten wir die Zeichnung zusammen, und er signierte sie. Im Augenblick hielt er das für einen Riesenjux. Es war zwar meine

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