Die zweite Todsuende
nicht tot. Sie fühlt immer noch was. Sie hat Wünsche, Sehnsüchte, Begierden. Meine Frage ist: Warum hat die Tochter nichts unternommen, sich das zu verschaffen, was sie will?»
«Vielleicht hat sie das», sagte Rebecca. «Vielleicht arbeitet sie gerade jetzt an der Verwirklichung dessen, was sie will, und du hast keine Ahnung davon.»
«Das ist möglich», gab Delaney zu. «Sehr gut möglich sogar. Eine andere Erklärung wäre, daß sie träge ist. Ich weiß, das klingt simpel, aber manchmal unterstellen wir den Menschen kompliziertere Motive als überhaupt da sind. Vielleicht ist die Frau einfach antriebsarm und liebt dieses gemächliche, träge Leben, das sie dort draußen führt.»
«Glauben Sie das wirklich, Sir?» fragte Boone.
«Nein», antwortete Delaney, «das tue ich nicht. Das ist es ja gerade. Die Tochter ist nicht dumm. Und sie läßt sich auch nicht bloß gehen. Dem Anschein nach hat die Mutter die Tochter unterm Daumen. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, daß es möglicherweise umgekehrt ist.»
«Das wäre mal eine schöne Umkehrung», sagte Rebecca.
«Aber verständlich», fuhr Delaney fort. «Wie wäre folgendes: zuerst war die Mutter diejenige, die Druck ausübte. Hat die Kinder mit fester Hand und eiserner Disziplin geführt. Doch dann wird sie älter, mithin auch schwächer, und die Tochter spürt das. Die Mutter scheint von Jahr zu Jahr mehr in der Vergangenheit zu leben. Es entsteht ein Machtvakuum. In das sickert die Tochter ein. Ganz allmählich. Vergeßt nicht, es ist kein Mann im Haus. Die Energie der alten Dame läßt nach, die der Tochter nimmt zu. Die Mutter ist es müde, für alles zu sorgen, den Schein aufrechtzuerhalten. Sie träumt sich in ihre Vergangenheit zurück. Mit der Gegenwart wird sie nicht fertig. Es gibt ein bestimmtes Quantum von Entschlußfreudigkeit, nennen wir es mal X, und was der Mutter abgeht, gewinnt die Tochter hinzu. Wie im Stundenglas. Der Sand läuft von einem Behältnis ins andere. Die Mutter verliert, die Tochter gewinnt. Nun …» Er lachte kurz auf. «Es mag weit hergeholt sein, aber mir kommt es so vor.»
«Die Mutter will ihren Traum verwirklichen», sagte Boone. «Das Haus wieder herrichten, den Garten in Schuß bringen. Alles so wiederherstellen, wie es war, als sie die junge Braut war. Zugegeben. Aber was will die Tochter?»
«Fliehen», behauptete Delaney.
Mit sonderbarem Ausdruck sahen die drei ihn an.
«Edward», fragte seine Frau, «arbeiten so Detektive? Versuchen sie wirklich zu erraten, warum Menschen tun, was sie tun?»
«Für gewöhnlich nicht. Normalerweise arbeiten wir mit handfesten Beweisen. Harten Tatsachen. Statistiken, Waffen, Zeugenaussagen, mit Dingen, die man abwägen, unter ein Mikroskop legen kann. Aber manchmal, wenn nichts dergleichen vorliegt, oder das, was ist, nicht ausreicht, einen Fall zu klären, muß man sich den Menschen zuwenden. Wie du ganz richtig sagst: man muß versuchen, ihre Motive zu erraten. Dann versetzt man sich an ihre Stelle. Was wollen sie erreichen? Jeder will was. Aber manche Menschen können sich nicht beherrschen. Da werden Wünsche zu notwendigen Bedürfnissen. Und ein Bedürfnis, ich meine echte Gier, die einen Tag und Nacht nicht losläßt, reicht als Motiv für praktisch jedes Verbrechen.»
Seine Zuhörer schwiegen verstört. Delaney sah den Sergeant an. Boone sprang sofort auf. «Es wird spät. Morgen gibt's viel zu tun. Ich muß mich auf die Socken machen.»
Nun entstand das übliche Aufbruchsdurcheinander. «Noch etwas Creme?» - «O nein! Vielen Dank!» - «Kaffee?» - «Keinen Schluck!» Dann gingen Abner Boone und Rebecca Hirsch gleichzeitig. Delaney schloß hinter ihnen zu, half dann seiner Frau den Geschirrspüler einräumen und stellte die Reste weg.
«Sie haben was miteinander, nicht wahr?» fragte er wie beiläufig.
«Ja.» Sie nickte.
«Hoffentlich muß sie es nicht bitter bereuen.»
Seine Frau zuckte mit den Achseln. «Sie ist eine erwachsene Person, Edward. Sie kann selbst auf sich aufpassen.»
8
Es war nicht das erste Mal, daß Sergeant Abner Boone darüber nachsann, welche Ähnlichkeit die Polizeiarbeit mit dem Theater hat. Auf die getarnt arbeitenden Polizisten in ihrer Verkleidung, mit ihrem Ganovenjargon, den Rollen, die sie spielten, traf das selbstredend am meisten zu. Aber auch Kriminalbeamte hatten etwas von Schauspielern, sogar die uniformierten Polizisten. Man lernte rasch, Gefühle vorzutäuschen, lernte, mit den Worten anderer zu reden und
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