Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
hast du Recht. In der Burg ist man überzeugt, dass es darin spukt.«
»Du scherzt!«
»Keineswegs. Denk nach. Der Bastard mit der Alten Macht hat dort gewohnt, der im Burgverlies grausam zu Tode gebracht wurde. Ein wunderbarer Nährboden für eine Spukgeschichte. Hinzu kommt, dass man manchmal nachts durch die Ritzen in den Fensterläden flackernde blaue Lichter sehen kann, und ein Stallbursche schwört Stein und Bein, er habe in einer mondhellen Nacht den Narbenmann an eben jenem Fenster stehen sehen.«
»Du hast dafür gesorgt, dass das Zimmer leer bleibt.«
»Ich bin nicht ganz frei von sentimentalen Gefühlen. Lange habe ich gehofft, du würdest eines Tages zurückkehren und wieder dort einziehen. Aber genug davon. Wir haben Arbeit zu tun.«
Ich holte tief Luft. »Die Königin hat nichts von dem Brief erwähnt, in dem der Prinz der Alten Macht bezichtigt wird.«
»Nein. Hat sie nicht.«
»Warum nicht? Weißt du’s?«
Er zögerte. »Möglicherweise sind manche Dinge derart erschreckend, dass selbst unsere tapfere Königin die Augen davor verschließen möchte.«
»Ich möchte den Brief sehen.«
»Du wirst ihn zu sehen bekommen. Später.« Er schwieg einige Atemzüge lang, dann fragte er ernst: »Fitz? Wirst du dich jetzt zusammennehmen und tun, was getan werden muss, oder weiter Zeit schinden?«
Ich atmete bewusst tief ein und langsam wieder aus und richtete den Blick in das Herz des zusammengesunkenen Feuers. Ich zwang mich, nur das zu sehen und nichts zu denken. Ich öffnete mich der Gabe.
Mein Bewusstsein dehnte sich aus. Im Lauf der Jahre habe ich viel darüber nachgedacht, wie man den Prozess des Hinausgreifens mit der Gabe am besten beschreiben könnte. Keine Metapher wird ihm gerecht. Wie ein vielfach zusammengelegtes Seidentuch entfaltet sich das Bewusstsein, öffnet und öffnet und öffnet sich, wieder und wieder, wird größer und gleichzeitig irgendwie dünner.
Das wäre ein Bild. Ein anderes zeigt die Gabe als einen mächtigen, unsichtbaren Strom, der immer in Bewegung ist. Konzentriert man sich darauf, kann man von der Strömung erfasst und mitgerissen werden. In seinen wilden Wassern berühren sich Bewusstseine und verschmelzen.
Doch keine Worte oder Bilder vermögen das Erlebnis wirklich zu beschreiben, so wenig wie man mit Worten den Duft von frischem Brot oder die Farbe Gelb beschreiben kann. Die Gabe ist die Gabe. Sie ist die erbliche Magie des Geschlechts der Weitseher, doch nicht allein auf das Königshaus beschränkt. Viele Menschen in den Sechs Provinzen besitzen sie in geringerem oder größerem Maße. In manchen wirkt sie stark genug, dass ein Gabenkundiger ihre Gedanken hören kann, sie unter Umständen sogar beeinflussen. Erheblich seltener gibt es solche, die mit der Gabe hinauszugreifen vermögen. Gewöhnlich ist es nicht mehr als ein blindes Tasten, außer das Talent wird geschult und ausgebildet. Ich öffnete mich, lauschte, suchte, doch ohne Hoffnung, jemanden zu erreichen.
Gedankenfäden streiften mich wie Wasserbinsen. »Ich kann nicht leiden, wie sie meinen Liebsten anschaut.«
»Ich wünschte, ich könnte ein letztes Mal mit dir sprechen, Papa.«
»Bitte komm schnell wieder nach Hause, ich fühle mich schrecklich elend.«
»Du bist wunderschön. Bitte dreh dich noch einmal um, gönn mir wenigstens das.« Die Menschen, von denen diese Gedanken ausstrahlten, waren sich dessen in der Mehrzahl nicht bewusst. Keiner ahnte, dass ich sie belauschte und meine eigenen Gedanken konnte ich ihnen nicht hörbar machen. Alle riefen in ihrer Taubheit mit Stimmen, von denen sie glaubten, sie wären stumm. Keiner war Prinz Pflichtgetreu. Aus irgendeinem Flügel des Palas drang Musik an meine Ohren, wirkte störend. Ich wehrte sie ab und forschte weiter.
Ich weiß nicht, wie lange ich mich in diesen Gedankenschwärmen bewegte oder wie weit ich bei meiner Suche vordrang. Die Reichweite der Gabe wird beschränkt von der Stärke des Talents, nicht von der Entfernung. Ich hatte kein Maß für meine Kraft, und die Zeit existiert nicht im Gabenstrom. Wieder einmal balancierte ich am Rand der Selbstauflösung, klammerte mich an das Wissen um mein lebendiges Fleisch, trotzte der Verlockung, mich von der Gabe davontragen zu lassen, körperlos.
»Fitz«, murmelte ich, als Antwort auf etwas, und dann hörte ich mich laut »FitzChivalric« sagen. Ein neues Scheit fiel polternd in die Glut im Kamin, das glosende Herz des Feuers zersprang in tausend Funkensplitter. Eine Zeit lang starrte
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