Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
und die Liebe seines Herzens.«
»Sodass ein Partner in dem anderen weiterlebt?«, fragte ich verwirrt.
Rolf bedachte mich mit einem grimmigen Blick. »Nein. Habe ich nicht eben erklärt, dass solches Tun bei uns verpönt ist? Wenn deine Zeit zu sterben kommt, gebieten Anstand und Würde, dass du dich von deinem Partner löst und davongehst und nicht versuchst, als Schmarotzer in ihm weiterzubestehen.«
Nachtauge stieß ein hohes, pfeifendes Winseln aus. Er war ebenso ratlos wie ich. Rolf schien einzusehen,. dass diese Lektion schwer verständlich war, denn er schwieg und kratzte sich geräuschvoll am Bart. »Ihr müsst euch das so vorstellen. Meine Mutter ist seit langem tot. Trotzdem erinnere ich mich immer noch an den Klang ihrer Stimme, wenn sie mir Wiegenlieder vorsang und höre ihre Ermahnungen, wenn ich im Begriff war, eine Dummheit zu begehen. Du weißt, was ich meine?«
»Ich denke schon.« Das war ein weiterer Streitpunkt zwischen mir und Rolf. Er konnte nicht glauben, dass ich mich nicht an meine leibliche Mutter erinnerte, obwohl ich die ersten sechs Jahre meines Lebens bei ihr verbracht hatte. Bei meiner halbherzigen Erwiderung bekam er schmale Augen.
»So geht es den meisten Leuten«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, als könnte Lautstärke zu seiner Überzeugungskraft beitragen. »Und das wird auch dir bleiben, wenn Nachtauge von dir gegangen ist. Oder umgekehrt.«
»Erinnerungen.« Ich nickte. Die bloße Erwähnung der Möglichkeit von Nachtauges Tod verstörte mich zutiefst.
»Nein!« Rolf warf verzweifelt die Arme in die Höhe. »Nicht bloß Erinnerungen. Jeder kann Erinnerungen haben. Was ein Verschwisterter seinem Gefährten hinterlässt, ist tiefer und reicher als Erinnerungen. Es ist eine Anwesenheit. Nicht als ob man im Bewusstsein des anderen weiterlebt, kein Teilen von Gedanken, Entscheidungen, Erfahrungen. Nur einfach – da sein. Im Hintergrund. Jetzt habt ihr es verstanden«, schloss er gewichtig.
Nein, wollte ich sagen, aber Nachtauge lehnte sich schwer gegen mein Bein, sodass ich nur einen Laut ausstieß, den Rolf als Zustimmung deuten konnte.
Während des nächsten Monats übte Rolf mit uns auf seine bärbeißige Art, befahl uns, dass wir uns voneinander lösen sollten, und dann durften wir wieder zusammenkommen, doch nur auf eine hauchfeine, ätherische Art, die ich äußerst unbefriedigend fand. Ich war überzeugt, dass wir etwas falsch machten, dies konnte nicht der Trost und die Nähe sein, die Rolf gemeint hatte. Als ich Rolf gegenüber meine Zweifel äußerte, gab er mir zu meiner Verwunderung Recht, erklärte dann aber, dass wir immer noch viel zu eng verbunden waren, dass der Wolf und ich uns noch deutlicher vereinzeln müssten. Wir hörten auf ihn und gaben uns ernsthaft Mühe, behielten uns aber vor, nach unserem eigenen Gutdünken zu handeln, wenn einer von uns zu sterben käme.
Natürlich sprachen wir nicht davon, aber ich bin überzeugt, dass Rolf wusste, er hatte uns nicht bekehrt. Er gab sich große Mühe, uns zu »beweisen«, dass wir im Unrecht waren, und die Beispiele, die er uns zeigte, stimmten in der Tat nachdenklich. Eine Familie mit der Alten Macht hatte leichtsinnig Schwalben unter dem Dach nisten lassen, wo ihr kleiner Sohn nicht nur das heimelige Zwitschern der Vögel hören konnte, sondern auch ihr Kommen und Gehen beobachtete. Und das war alles, was er auch heute noch tat, als erwachsener Mann von dreißig Jahren. In Burgstadt hätten die Leute ihn einfältig genannt und das war er, doch als Rolf uns aufforderte, mit der Alten Macht nach ihm zu spüren, erkannten wir beide den Grund. Der Junge hatte sich verschwistert, nicht nur mit einer Schwalbe, sondern mit allen Schwalben. In seinem Kopf war er ein Vogel, und das Kneten mit Lehm und Flattern mit den Händen und Schnappen nach Insekten, waren Handlungen, die sein Vogelverstand ihm eingab.
»Das kommt davon, wenn man sich zu jung verschwistert«, erklärte Rolf bedeutungsschwer.
Er zeigte uns noch ein weiteres Paar, aber nur aus der Ferne. An einem frühen Morgen, Nebel wogte noch dicht in den Tälern, lagen wir bäuchlings am Rand einer Senke und machten kein Geräusch, dachten keinen Gedanken vom einen zum anderen. Eine weiße Hirschkuh glitt durch den Nebel zu einem Tümpel; sie bewegte sich nicht mit der wachsamen Scheu des Wildtiers, sondern mit der erotischen Anmut einer Frau. Ihr Verschwisterter musste ganz in der Nähe sein, verborgen im Dunst. Die Hirschkuh senkte den Kopf zum Wasser
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