Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann
und trank in langen Zügen von dem kühlen Nass. Dann hob sie langsam den Kopf, die großen Ohren drehten sich lauschend nach vorn. Ein behutsames Spüren nach uns machte sich bemerkbar. Ich zwinkerte, versuchte meine Wahrnehmung auf sie auszurichten, während der Wolf ein kehliges, fragendes Winseln ausstieß.
Plötzlich stand Rolf auf und zeigte Verachtung. Kalt wies er den Kontakt zurück. Ich spürte seinen Widerwillen, als er sich mit großen Schritten entfernte, wir aber blieben liegen und schauten zu dem Tier hinunter. Vielleicht spürte sie unsere Neugier und Faszination, denn sie beobachtete uns mit einer für Wildtiere völlig uncharakteristischen Dreistigkeit. Ihr Bild schien zu verschwimmen. Ich kniff die Augen zusammen, bemühte mich, in der einen Gestalt dort unten die zwei zu erkennen, von denen die Alte Macht mir sagte, dass sie da waren.
Als ich noch Chades Lehrling war, hatte er mir verschiedene Übungen aufgegeben, die mich lehren sollten zu sehen, was wirklich vorhanden war und nicht, was mein Verstand erwartete zu sehen. Die meisten waren dazu gedacht, das Augenmerk zu schärfen: ein Seilgeschlinge anzuschauen und erkennen, ob es verknotet war oder einfach hingeworfen. Oder nach einem kurzen Blick auf ein buntes Durcheinander von Handschuhen festzustellen, zu welchem das Gegenstück fehlte. Ein raffinierter Trick, den er mir zeigte, bestand darin, den Namen einer Farbe in einer ihr nicht entsprechenden Tinte zu schreiben; zum Beispiel das Wort Rot in leuchtend blauen Lettern. Eine ganze Liste solcher Widersprüche vorzulesen und dabei die geschriebene Farbe zu nennen statt der benutzten, erforderte größere Konzentration als ich gedacht hatte.
Und so rieb ich mir die Augen und schaute noch einmal hin, und diesmal sah ich nur eine Hirschkuh. Die Frau war eine Projektion meines Verstandes gewesen, erzeugt von der Alten Macht. In greifbarer Gestalt war sie nicht vorhanden. Ihre Anwesenheit in der Hirschin verzerrte meine Wahrnehmung des Tieres. Diese widernatürliche Zwieheit ließ mich schaudern. Rolf war bereits ein gutes Stück entfernt; Nachtauge und ich beeilten uns, ihn einzuholen. Einige Zeit und ein Wegstück später fragte ich ihn: »Was war das?«
Er fuhr zu mir herum, erbost über meine Ignoranz. Was das war? Du könntest das sein, in ein paar Jahren, wenn du dein Verhalten nicht änderst. Du hast ihre Augen gesehen. Das war keine Hirschkuh dort unten, das war eine Frau in der Haut eines Hirsches. Ich wollte, dass ihr das seht. Die schändliche Tat. Den Missbrauch einer Bindung, die von Vertrauen und Respekt geprägt sein sollte.
Ich schaute ihn an, abwartend. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass ich ihm beipflichtete, denn er stieß ein grämliches Brummen aus. »Das war Delayna, die vor zwei Wintern auf dem Marpelteich ins Eis einbrach und ertrank. Sie hätte sterben sollen, aber nein, sie klammerte sich an Parela. Die Hirschkuh hatte entweder nicht das Herz oder nicht die Kraft, sich zu widersetzen, und da sind sie nun, eine Hirschkuh mit dem Herz und dem Verstand einer Frau und Parela selbst ist so gut wie ausgelöscht. Es ist wider die Natur. Solche wie Delayna sind der Anlass für all die hässlichen Gerüchte, die über uns vom Alten Blut im Schwange sind. Sie ist der Grund, weshalb sie uns aufhängen und verbrennen wollen. Sie hätte es verdient!«
Ich wandte den Blick ab. Ich selbst war diesem Los nur um Haaresbreite entgangen, und ich glaubte nicht mehr, es wäre ein verdientes Ende für irgendjemanden. Mehrere Tage hatte mein Körper kalt im Grab gelegen, während ich Nachtauges Leib und Leben teilte. Ich war überzeugt, dass Rolf einen diesbezüglichen Verdacht gegen mich hegte und fragte mich, was ihn bewog, mich zu unterweisen, wo er mich so verabscheute. Als hätte er einen Widerhall meiner Gedanken aufgefangen, fügte er brummig hinzu: »Jeder, der es nicht besser weiß, kann einen Fehler machen. Doch nachdem man ihn gelehrt hat, die Dinge auf richtige Weise zu tun, gibt es für ihn keine Entschuldigung mehr, den Fehler zu wiederholen. Keine.«
Er drehte sich um und ging weiter. Wir folgten ihm in einigem Abstand, trotzdem konnten wir sein brummelndes Selbstgespräch hören. »Delaynas Lebensgier hat beide unglücklich gemacht. Parela kann nicht nach ihrer Natur leben. Kein Gefährte, keine Kitze; wenn sie stirbt, wird sie einfach aufhören zu sein und Delayna mit ihr. Delayna wollte als Mensch nicht vom Leben lassen, doch ein Leben als Tier gefällt ihr auch
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