Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Problem. Wir können durch eine der Wasserröhren gehen. Ich war schon oft da unten. Um diese Jahreszeit lassen sie es erst frühmorgens ablaufen. Die Rohre enden direkt unten am Damm, und von da aus sollte man das Camp sehen können.«
Die Herausforderung war ausgesprochen. Ein Nein kam nicht in Frage.
» Es gibt kein gottverdammtes Camp, Tifty.«
Sie brauchten drei Tage, um den nötigen Mut aufzubringen, und selbst dann verbot Cruk seiner Schwester mitzukommen. Ihr Plan war es, sich hinauszuschleichen, wenn ihre Eltern schliefen, und sich dann an der Bude zu treffen. Tifty hatte einen Weg zum Damm ausbaldowert, auf dem die Streife sie nicht sehen würde.
Es war nach Mitternacht, als Tifty aufkreuzte. Die anderen warteten schon. Tifty erschien am Ende des Durchgangs und kam schnell auf sie zu. Er hatte die Kapuze über den Kopf gezogen und die Hände in die Taschen geschoben. Als er bei der Bude ankam, zog er eine Plastikflasche hervor.
» Flüssiger Mut.« Er schraubte die Flasche auf und reichte Vorhees die Flasche.
Es war Alk. Vorhees’ und Boz’ Eltern, fromme Leute, die jeden Sonntag bei den Schwestern in die Kirche gingen, hatten niemals welchen im Haus. Vorhees hielt sich die offene Flasche unter die Nase. Die klare Flüssigkeit roch scharf nach Chemikalien wie Seifenlauge.
» Gib schon her«, befahl Cruk. Er riss die Flasche an sich, trank einen Schluck und gab sie Vorhees zurück.
» Hast du noch nie Alk getrunken?«, fragte Tifty.
Vorhees zog ein gekränktes Gesicht. » Doch, klar. Schon oft.«
» Wann hast du denn Alk getrunken?«, spottete Boz.
» Es gibt eine Menge Dinge, von denen du nichts weißt, Bruder.« Vorhees wünschte, er könnte sich die Nase zuhalten. Er nippte vorsichtig und schluckte schnell, um nichts zu schmecken. Ein Schwall von sengender Hitze erfüllte seine Nase, und ein Flammenstrom floss durch seine Kehle. Gott, war das furchtbar! Er keuchte, Tränen traten ihm in die Augen, und alle lachten.
Boz trank als Nächster. Vorhees sah verlegen, dass sein kleiner Bruder einen respektablen Schluck hinunterbrachte, ohne eine Miene zu verziehen. Noch dreimal machte die Flasche die Runde, und als sie das vierte Mal vorbeikam, hatte sogar Vorhees den Bogen heraus und schaffte einen guten Schluck, ohne zu husten. Er fragte sich, warum er nichts spürte, aber als er aufstand, merkte er, dass es doch gewirkt hatte: Der Boden schwankte unter seinen Füßen, und er musste eine Hand ausstrecken, um das Gleichgewicht zu behalten.
» Gehen wir«, sagte Tifty.
Als sie den Damm erreichten, kicherten sie alle wie die Verrückten. Der Lauf der Zeit war irgendwie verändert. Es war, als hätten sie lange gebraucht, um hier anzukommen, und zugleich war nicht mal eine Sekunde verstrichen. Vorhees erinnerte sich bruchstückhaft daran, dass sie sich unter einem Lastwagen vor der Streife versteckt hatten, aber an die genauen Umstände konnte er sich nicht entsinnen, und er wusste auch nicht, wieso sie nicht erwischt worden waren. Er wusste, er war betrunken, sein Verstand konnte diese Tatsache jedoch nicht erfassen. Sie blieben im Schatten stehen und warteten, während einer– Boz, erkannte Vorhees, denn er war betrunkener als alle andern– sich im Gebüsch übergab. Und Dee– was machte sie eigentlich hier? War sie ihnen gefolgt? Cruk schnauzte sie an, sie solle nach Hause gehen, doch Dee war Dee, und wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es, als wollte man einem Hund einen Knochen entreißen. Tatsache war, dass Vorhees sie liebte. Immer schon. Plötzlich war sie überwältigend, diese Liebe: ein anschwellender Ballon von Empfindungen in seiner Brust, und er war dabei, seinen Mut zusammenzunehmen, um es ihr zu gestehen, als Tifty zurückkam– wo immer er gewesen sein mochte– und ihnen sagte, sie sollten mitkommen.
Er führte sie zu einem kleinen Betongebäude, in dem eine Stahltreppe nach unten führte. Unten war ein Wartungstunnel, klamm und düster. Die Wände tropften von Feuchtigkeit. Sie waren im Innern des Dammes, irgendwo oberhalb der Ablaufrohre. Glühbirnen in Metallkäfigen warfen lange Schatten über die Wände. Ein zunehmender Adrenalinrausch ließ Vorhees’ Sinne wieder klar werden. Sie kamen zu einer Luke in der Wand, die mit einem verrosteten Eisenrad verschlossen war. Cruk und Tifty stellten sich einander gegenüber auf, packten das Rad und zerrten daran mit aller Kraft, aber es gab nicht nach.
» Wir brauchen einen Hebel«, sagte Tifty.
Er ging
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