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Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Titel: Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Cronin
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Temperatur steil nach unten, und das Gras wurde schwer vom Tau. Mit dem Sprit aus den Vorratslagern am Straßenrand würde sie für die Reise vier Tage brauchen.
    Am Morgen des 6. November traf sie in der Garnison Kearney ein. Es war, wie das Zentralkommando befürchtet hatte, als der Nachschubkonvoi nicht zurückgekommen war: Keine Menschenseele war mehr da, um sie zu begrüßen. Die Garnison war ein offenes Grab. Es war, als hänge das Echo der Schreie, mit denen die Soldaten gestorben waren, noch in der winddurchwehten Stille. Alicia verbrachte zwei Tage damit, die ausgetrockneten Überreste ihrer Kameraden auf einen Laster zu legen und sie zu der Stelle zu fahren, die sie ausgewählt hatte, zu einer Lichtung am Ufer des Platte River. Dort legte sie sie in einer langen Reihe nebeneinander, damit sie zusammen sein konnten, übergoss sie mit Treibstoff und zündete sie an.
    Am nächsten Morgen sah sie das Pferd.
    Es stand gleich hinter der Barrikade, ein Blauschimmelhengst, schwarz mit asymmetrischen weißen Flecken. Der lange, maskuline Hals war gebeugt, und er weidete im dichten Gras am Rande des Exerzierplatzes. Seine Anwesenheit war so unerklärlich wie die eines einzelnen Hauses, das ein Tornado unberührt zurückgelassen hat. Vorsichtig und mit aufwärts gewandten Handflächen ging Alicia auf ihn zu. Einen Augenblick lang sah das Tier aus, als wolle es die Flucht ergreifen: Es blähte die Nüstern, legte die Ohren an und rollte die großen Augen. Wer ist dieses seltsame neue Wesen, schien es zu denken. Was hat sie vor? Alicia machte noch einen Schritt, und noch immer rührte er sich nicht. Aber sie spürte die Wildheit in seinem Blut, seine explosive animalische Kraft.
    » Braver Junge«, murmelte sie, » guter Junge. Siehst du? Ich bin nicht so schlimm. Lass uns Freunde sein, uns beide. Was meinst du?«
    Als sie auf Armlänge an ihn herangekommen war, schob sie ihm die flache Hand unter die Nase. Er stülpte die Lippen zurück und entblößte die gelbe Wand seiner Zähne. Sein Auge war eine große schwarze Kugel, in der ihr Bild schwamm. Ein Augenblick der Abwägung, er blieb angespannt und wachsam– doch dann senkte er den Kopf und füllte ihre offene Hand mit der feuchten Wärme seines Atems.
    » Ich glaube, ich habe mein Reitpferd gefunden.« Das Tier schnupperte jetzt an ihrer Hand und nickte mit dem Kopf auf und ab. Schaumflöckchen traten an den Rändern seines Mauls hervor. Sie streichelte ihm den Hals, das glänzende, schweißfeuchte Fell. Sein Körper sah aus wie gemeißelt, hart und rein, aber das ganze Ausmaß seiner Kraft leuchtete in seinen Augen. » Du brauchst einen Namen«, sagte Alicia. » Wie soll ich dich nennen?«
    Sie nannte ihn Soldier. Von dem Augenblick an, als sie sich auf seinen Rücken schwang, gehörten sie einander. Es war, als wären sie zwei alte Freunde, die lange getrennt gewesen waren und sich jetzt wiedergefunden hatten. Lebenslange Gefährten, die einander alles erzählten, die aber auch, wenn sie wollten, einfach schweigen konnten. Sie blieb noch zwei Tage in der leeren Garnison, machte eine Bestandsaufnahme und plante die Reise, die vor ihr lag. Sie schliff ihre Messer mit größter Sorgfalt. Ihre Befehle hatte sie in ihrer Tasche. An: Alicia Donadio, Captain der Expeditionsstreitkräfte. Unterzeichnet: Victoria Sanchez, Präsidentin der Republik Texas.
    Am Morgen des 12. ritten sie in Richtung Osten davon.
    Eine Brücke über den Missouri stand noch, vierzig Meilen weit nördlich von Omaha in dem Städtchen Decatur. Sie erreichten sie am sechsten Tag. Die Morgenstunden waren von Reif überzogen, und Winter lag in der Luft. Die Bäume hatten ihre Schamhaftigkeit aufgegeben und zeigten sich nackt. Alicia spürte ein leises Zögern in Soldiers Gang, als sie näher kamen. War das schon der Fluss? Im Ernst…? Von der Uferhöhe aus schauten sie auf den breiten, brodelnden Wasserlauf hinunter. Strudel wirbelten auf der Oberfläche, die dunkel glänzte wie Stein. Eine Viertelmeile weiter nördlich spannte sich die Brücke auf ihren massiven Betonpfeilern hinüber, als stehe sie mit gespreizten Riesenbeinen über dem Fluss. Ja, sagte Alicia. Im Ernst.
    In manchen Augenblicken sah es aus, als sei es eine übereilte Entscheidung gewesen. Hier und da war der Beton eingebrochen, und man schaute auf das schäumende Wasser hinunter. Sie stieg ab und führte Soldier am Zügel. Sorgfältig, denn bei jedem Schritt konnte die Brücke unter ihnen einstürzen, schlängelten sie sich

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