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Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Titel: Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Cronin
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hinüber. Wessen blöde Idee war das?, schien Soldier zu fragen. Ach so, deine.
    Auf der anderen Seite machten sie halt. Es wurde Abend; die Sonne sank hinter die Uferböschung. Alicias Rhythmus hatte sich umgekehrt. Zu Fuß hätte sie tagsüber schlafen und nachts marschieren können, wie es ihre Gewohnheit war. Zu Pferde ging das nicht. Sie zündete am Flussufer ein Feuer an, füllte ihren Topf mit Wasser und brachte es zum Kochen. Dann nahm sie den Rest ihres Proviants aus der Satteltasche: eine Handvoll getrocknete Bohnen, eine Dose Tomatenmark, ein Stück Zwieback, hart wie Stein. Sie hatte Lust zu jagen, wollte Soldier jedoch nicht allein lassen. Sie aß ihr kärgliches Abendessen, spülte den Topf im Fluss aus, legte sich auf ihre Decke und schaute zum Himmel hinauf. Wenn sie nur lange genug hinschaute, würde sie bestimmt eine Sternschnuppe sehen. Wie zur Antwort auf ihre Gedanken zog ein heller Streifen über den Himmel, dann folgten schnell hintereinander noch zwei. Michael hatte ihr vor vielen Jahren einmal erzählt, das seien übrig gebliebene Werke der Menschheit aus der Zeit Davor, sogenannte Satelliten. Er hatte versucht, ihr ihre Funktion zu erklären– es hatte etwas mit dem Wetter zu tun–, aber entweder hatte Alicia vergessen, was er gesagt hatte, oder sie hatte den neunmalklugen Michael ausgeblendet, als er wieder einmal demonstrieren musste, wie gescheit er war. Im Gedächtnis geblieben war ihr ein abstraktes Empfinden für diese Vermählung von Licht und Kraft: unerklärliche Objekte mit einem unergründlichen Zweck, die sich um die Erde schwangen wie Steine in einer Schleuder, bis sie irgendwann einmal in prachtvollem Lodern zur Erde stürzten. Weitere Sternschnuppen fielen über den Himmel. Alicia begann zu zählen; je länger sie hinaufschaute, desto mehr wurden es. Zehn, fünfzehn, zwanzig. Sie zählte immer noch, als sie einschlief.
    Der Tag brach an, frisch und klar. Alicia setzte die Brille auf und streckte sich. Die wohlige Energie der Nachtruhe floss durch ihre Glieder. In der Morgenluft klang das Rauschen des Flusses irgendwie lauter. Sie hatte sich den Zwieback zum Frühstück aufgehoben. Eine Hälfte vertilgte sie selbst, die andere verfütterte sie an Soldier, bevor sie losritt.
    Jetzt waren sie in Iowa. Die Reise war halb vorüber. Die Landschaft veränderte sich, und es ging auf und ab. Zwischen lehmigen, zusammengesunken wirkenden Hügeln erstreckten sich flache Täler mit fetter schwarzer Erde. Tiefhängende Wolken waren von Westen heraufgezogen und ließen das Licht flacher werden. Spät am Nachmittag entdeckte Alicia eine Bewegung auf dem Höhenkamm und hielt an. Tiergeruch lag im Wind. Soldier witterte es auch. Alicia zwang sich, still zu halten, und wartete, bis der Verursacher sich zeigte.
    Da. Eine Familie von Rehen erschien als Silhouette oben auf dem Kamm, zwanzig Stück alles in allem, und dabei war ein einzelner, großer Bock. Sein Gehörn war kolossal wie ein winterkahler Baum. Sie würde sich von der windabwärts gelegenen Seite nähern müssen; es war ein Wunder, dass die Rehe sie nicht schon bemerkt hatten. Sie schob ihr Gewehr in die Hülle, nahm ihre Armbrust und ein Bündel Bolzen und stieg ab. Soldier beäugte sie argwöhnisch.
    » Jetzt sieh mich nicht so an. Ein Mädel braucht auch was zu essen.« Sie tätschelte ihm beruhigend den Hals. » Nicht weglaufen, okay?«
    Sie ging in südlicher Richtung um den Kamm herum. Die Rehe hatten von ihrer Anwesenheit immer noch nichts gemerkt. Auf Knien und Ellenbogen schob sie sich den Hang hinauf. Sie war schnell, aber die Rehe waren schneller: Ein Schuss mit der Armbrust, vielleicht zwei– mehr hätte sie nicht. Nach langen Minuten geduldigen Kletterns kam sie oben an. Die Rehe waren V-förmig auf dem Kamm auseinandergegangen. Der Bock stand vielleicht zwölf Meter weit vor ihr. Alicia drückte sich an den Boden und legte einen Bolzen auf die Armbrust.
    Ein Windhauch vielleicht. Ein Augenblick empfindsamer Wahrnehmung: Explosionsartig gerieten die Rehe in Bewegung. Als Alicia stand, stürmten sie schon den Hang hinunter und davon.
    » Scheiße.«
    Sie warf die Armbrust zu Boden, zog ein Messer und rannte hinterher. Nichts würde sie davon abbringen, die Rehe zu jagen. Fünfzehn Meter weiter unten ging es plötzlich steil bergab, und Alicia sah ihre Chance, eine Konvergenz der einzelnen Linien, die ihr Hirn mit absoluter Präzision wahrnahm. Als der Bock unterhalb des Steilhangs vorbeijagte, riss sie das Messer hoch

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