Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
gewesen sein konnte, und bei einer anderen hätte sie Stein und Bein geschworen, es sei Belle Ramirez, Reys Frau, obwohl sie nicht antwortete, als Sara ihren Namen rief. Eines Morgens in der Essensschlange war ihre Schale von einem Mann gefüllt worden, den sie schon oft gesehen hatte, ohne ihn als Russell Curtis zu erkennen, ihren eigenen Cousin. Er sah so viel älter aus als der Mann, den Sara in Erinnerung hatte, dass sie einen Augenblick brauchte, um ihn unterzubringen, als ihre Blicke sich trafen. Fast ein Jahr lang war sie in derselben Baracke untergebracht gewesen wie Karen Molyneau, Jimmys Witwe, und ihre beiden Töchter Alice und Avery. Von Karen erfuhr Sara das meiste, unter anderem die Namen der Toten. Ian Patal, der bei der Verteidigung des Kraftwerks getötet worden war. Hollis’ Schwester Leigh und ihre kleine Dora, die ihr Leben auf der Reise ins Homeland verloren hatten. Die » Andere Sandy«, die kurz nach der Ankunft gestorben war; Karen wusste nicht genau, wie. Gloria und Sanjay Patal. So finster diese Neuigkeiten auch waren, Sara betrachtete das Jahr mit Karen und ihren Mädchen doch als kurze Ruhepause, eine Zeit, in der sie sich mit der Vergangenheit verbunden gefühlt hatte. Aber ständig herrschte Bewegung zwischen den Baracken, und eines Tages waren die drei verschwunden, und Fremde schliefen in den Kojen, in denen sie ein Jahr lang gelegen hatten. Sara hatte sie seitdem nicht wieder gesehen.
Die Fahrt zur Biodiesel-Anlage führte am Fluss entlang und durch ein Labyrinth aus verwahrlosten Hütten in das Industriegebiet am Nordrand des Flachlands. Der Tag versprach keine Besserung; ein bitterkalter Wind blies ihnen harte Regentropfen ins Gesicht. Die Luft war dick vom Gestank des Flachlands– Jauchegruben und die komprimierten Ausdünstungen schmutziger Menschen und dahinter wie ein Geruchsvorhang die dunkle Erdigkeit des Flusses. Sie passierten eine Unmenge von Checkpoints, Zäune, die sich öffneten und schlossen, Kols mit Clipboards und Stiften und einem unersättlichen Appetit auf Papierkram. Diverse Befehlsebenen, die sie durchwinkten. Auf der anderen Seite des Flusses lag eine weite Schwemmlandebene, kahl und farblos und vor dem Winter längst abgeerntet. Im Osten erhoben sich stufenweise die makellos gepflegten Kalksteinhäuser und renovierten Apartmentkomplexe der unter dem Namen Hilltop bekannten Gegend, wo die Rotaugen wohnten. Auf dem Gipfel prangte der Capital Dome, gekrönt von seiner goldenen Kuppel. Es hieß, dieses Bauwerk und die Gebäude ringsum seien früher eine Universität gewesen, eine Art Schule, aber Sara kannte zum Vergleich nur die Zuflucht, und deshalb fiel es ihr schwer, diese Tatsache richtig zu verstehen. Sie war noch nie auf dem Hügel gewesen und schon gar nicht im Dome. Manche Arbeiter durften dort hinein, Gärtner und Klempner und Küchenhilfen und natürlich die Dienstmädchen: Frauen, die dazu auserwählt waren, dem Direktor des Homelands und seinem Stab von Rotaugen zu dienen. Alle sagten, die Dienstmädchen hätten das meiste Glück, denn sie lebten im Luxus mit gutem Essen, heißem Wasser und weichen Betten, aber das wusste man alles nur aus zweiter Hand. Kein Dienstmädchen war je ins Flachland zurückgekehrt. Wenn sie einmal im Dome verschwanden, verbrachten sie dort ihr Leben.
» Sieh dir das an«, murmelte Jackie.
Saras Gedanken waren, betäubt von der Kälte, abgeschweift. Die Zufahrtsstraße führte vom Fluss weg; im Norden, jenseits der Homeland-Grenzen, erkannte Sara die Umrisse der Kräne, die wie zwei riesige Vogelskelette aus den Bäumen heraufragten. Das » Projekt« nannte man dieses jahrzehntealte Unternehmen zur Errichtung eines riesigen Stahl- und Betongebäudes mit unbekanntem Zweck. Die Flachländer, die dort arbeiteten, fast ausnahmslos Männer, wurden jeden Tag durchsucht, wenn sie kamen und gingen, und schon das Reden über das, was sie dort taten, galt als Verrat und konnte einen auf den Fressplatz bringen. Aber Gerüchte gab es im Überfluss. Eine Zeitlang herrschte eine bestimmte Theorie vor, und dann wich sie einer anderen und einer dritten, bevor sie wieder nach vorn rückte und der Kreislauf von Neuem begann. Aber selbst die Männer, die dort arbeiteten, schienen, wenn sie sich überhaupt zum Sprechen überreden ließen, nicht zu wissen, was sie da bauten. Man munkelte von labyrinthischen Korridoren, riesigen Räumen, halbmeterdicken Türen aus massivem Stahl. Manche behaupteten, es sei ein Denkmal für den Direktor,
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