Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
mit Ausnahme von Amys Atem dämpfte. Eine Wand war von Büchern bedeckt, an einer zweiten hing ein von einem winzigen Scheinwerfer beleuchtetes großformatiges Gemälde mit drei Gestalten, die an einer langen Theke saßen, und einem vierten Mann mit einer weißen Mütze. Die Szene wurde von einer dunklen Straße aus durch ein Schaufenster gesehen. Amy blieb stehen und las, was auf der kleinen Plakette unten am Rahmen stand: Edward Hopper, » Nighthawks«, 1942.
Rechts war eine Flügeltür mit bleiverglasten Fenstern. Amy drehte den Türknauf und schlüpfte hindurch.
Guilder lag auf dem Rücken auf der Bettdecke. Er trug nur Unterwäsche. Auf dem Meer von Bettzeug neben ihm schwamm ein Stapel Pappdeckelordner. Ein leises Schnarchen kam wie ein Wind aus seiner Nase. Wo sollte sie sich hinstellen? Sie entschied sich für das Fußende des Bettes.
» Direktor Guilder.«
Er fuhr heftig erschrocken hoch, und eine Hand schoss unter das Kopfkissen. Er rutschte am Kopfbrett herauf, weg von ihr, und mit beiden Händen richtete er die Pistole auf sie und spannte den Hahn. Er zitterte so stark, dass Amy befürchtete, er könnte sie aus Versehen erschießen.
» Wie bist du hier hereingekommen?«
Sie spürte seine Unsicherheit. Das Gewand eines Dienstmädchens, aber ein Gesicht, das er nicht kannte. » Der Wachmann war sehr entgegenkommend. Warum legen Sie die Pistole nicht hin?«
» Verdammt, wer bist du?«
Sie hörte Stimmen auf dem Gang, und Fäuste hämmerten an die Außentür.
» Ich bin Bello«, sagte sie. » Ich bin hier, um mich zu ergeben.«
XI
Die dunkelste Nacht des Jahres
21. Dezember n. V. 97
Ich liege mit meiner Seele unter den Löwen; die Menschenkinder sind Flammen, ihre Zähne sind Spieße und Pfeile und ihre Zungen scharfe Schwerter.
Psalm 57,4
GEFASST !
EINE BOTSCHAFT AUS DEM BÜRO DES HOMELAND - DIREKTORS
Der unter dem Namen » Bello« bekannte abscheuliche Mörder ist verhaftet!
Die Rebellion ist zerschlagen!
Der Frieden in unserem geliebten Homeland ist wiederhergestellt!
VOLLSTRECKUNG DES URTEILS
DURCH ÖFFENTLICHE HINRICHTUNG
IM STADION
ALLE ARBEITER MELDEN SICH BEIM
HR - PERSONAL IN IHREN JEWEILIGEN BARACKEN
MORGEN ABEND UM 21.30 UHR
Steht zusammen, Bürger des Homelands!
Frohlockt an diesem glorreichen Tag der Gerechtigkeit!
Lasst alle Verräter wissen, dass sie das gleiche Schicksal ereilen wird.
63
Es war so weitergegangen, wie Amy es vorausgesehen hatte. Zeit und Ort ihrer Hinrichtung war festgelegt, nur die Methode war noch nicht bekanntgegeben worden– das letzte Detail, von dem ihr Plan abhing. Würde Guilder sie einfach erschießen? Sie hängen? Aber wenn er lediglich ein so kümmerliches Schauspiel im Sinn hatte, warum hatte er dann die gesamte Bevölkerung des Homelands, alle siebzigtausend Seelen, zum Zuschauen verdonnert? Amy hatte den Köder an den Haken gehängt; würde Guilder jetzt anbeißen?
Peter taumelte in den nächsten vier Tagen zwischen emotionalen Extremen hin und her und wechselte zwischen Sorge und Staunen, und beides war begleitet von einem machtvollen Déjà-vu-Gefühl. Alles erschien auffallend vertraut, als habe sich nichts geändert, seit sie Babcock auf dem Berg in Colorado gegenübergestanden hatten. Hier waren sie alle; das Schicksal hatte sie wieder zueinander geführt wie eine starke Gravitationskraft; als wären sie Figuren in einer Geschichte, die bereits geschrieben war, sodass sie nur noch die Handlung vollziehen mussten. Peter, Alicia, Michael, Hollis, Greer– auf verschiedenen Wegen und aus verschiedenen Gründen waren sie an diesem Ort zusammengekommen. Und wieder war es Amy gewesen, die sie geführt hatte.
Greer hatte ihnen von ihrer Verwandlung erzählt: Houston, Carter, die Chevron Mariner, Amys Reise in den Bauch des Schiffes und ihre Rückkehr. Greer kannte nicht die ganze Geschichte dessen, was zwischen Amy und Carter vorgegangen war. Er wusste nur, dass Carter sie hierhergeschickt hatte. Darüber hinaus hatte Amy nichts sagen wollen oder können. Hatte sie in der Nacht im Waisenhaus, als sie in der Tür gestanden und ihre Fingerspitzen sich berührt hatten– hatte sie da gewusst, was mit ihr vorging? Und er, hatte er es gewusst? Er hatte in ihrer Berührung den Druck von etwas Unausgesprochenem gefühlt. Ich gehe fort. Das Mädchen, das du kennst, wird nicht mehr hier sein, wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Und das stimmte: Das Mädchen, das Amy gewesen war, war nicht mehr da. An ihrer Stelle war jetzt eine Frau.
Die
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