Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Fensterrahmen zusammengerafft. Er legte sich eine um die Schultern. Die Troddeln schwangen vor seinen Hüften hin und her, als er zum Spiegel zurückging. Nicht schlecht für jemanden, der absolut keine Ahnung von Religion hatte– und von Mode übrigens auch nicht. Wie schockiert würden die Historiker der Zukunft sein, wenn sie erfuhren, dass Horace Guilder, der Hohepriester vom Tempel des Immerwährenden Lebens, der Wiedererbauer der Zivilisation, der Hirte des heraufdämmernden Zeitalters der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Viral, sich mit einer Vorhangkordel weihevolle Würde verliehen hatte.
Als er die Tür öffnete, sah er, dass Suresh ihn erwartete. Die nackten Augen des Mannes weiteten sich.
» Sagen Sie kein Wort.«
» Hatte ich nicht vor.«
» Tun Sie’s auch nicht.«
Sie fuhren mit dem Aufzug ins Foyer hinunter. Im Gebäude war es auffallend still. Guilder hatte den größten Teil seines persönlichen Gefolges schon ins Stadion geschickt. Die Personaldecke wurde dünn, aber wichtiger als alles andere war es, die Ordnung im Stadion aufrechtzuerhalten. Die Wagen warteten und bliesen ihre Abgaswolken in die kalte Luft: Guilders Wagen, der Sattelschlepper mit seiner prachtvollen Ladung, zwei Begleittrucks und ein Security-Van. Mit schnellen Schritten ging er auf das letzte Fahrzeug zu. Zwei Kols standen Wache an seinem Heck. Einen Nachteil hatte so ein Priestergewand: Es war nicht besonders warm an einem Winterabend. Er hätte einen Mantel mitnehmen sollen.
» Aufmachen.«
Es war schwer zu glauben, dass die Gestalt, die da vor ihm auf der Bank saß, für so viel Ärger verantwortlich sein sollte. Man hätte sie als hübsch bezeichnen können, wenn Guilders Gedanken in eine solche Richtung gegangen wären. Nicht, dass sie zierlich wäre– das war sie nicht. Unter all den Schwellungen und Verfärbungen war sie offensichtlich ein robustes Exemplar. Tiefliegende Augen, kraftvolle Züge, eine straffe, muskulöse Gestalt, die trotzdem weiblich aussah. In Guilders Vorstellung war Bello immer ein Mann gewesen, und zwar kein x-beliebiger Mann; das Porträt, das er vor seinem geistigen Auge zusammengeschustert hatte, war eine Ché-Guevara-Imitation, ein Revolutionär aus einer Bananenrepublik mit stechenden Augen und einem struppigen Bart. Das hier war Jeanne d’Arc.
» Hast du etwas zu deinen Gunsten zu sagen?« Guilder war es völlig gleichgültig. Er stellte diese Frage nur zum Spaß.
Sie war an Händen und Füßen gefesselt. Ihre geschwollenen und aufgeplatzten Lippen ließen ihre Stimme belegt klingen, als habe sie eine schwere Erkältung. » Ich möchte sagen, dass es mir leidtut.«
Guilder lachte. Es tat Bello leid! » Sag mir, was tut dir leid?«
» Was mit dir passieren wird.«
Trotzig bis zum Schluss. Vermutlich gehört es zum Spiel, dachte Guilder, doch ärgerlich war es trotzdem. Er hatte gute Lust, sie noch ein bisschen herumzuschubsen.
» Deine letzte Chance«, sagte die Frau.
» Du hast interessante Ansichten«, sagte Guilder und trat von der offenen Tür zurück. » Zumachen!«
Lange Zeit saß Lila auf der Bettkante und betrachtete sie. Lichtstrahlen fielen vom Fenster schräg auf das schlafende Gesicht, und blonde Locken flossen über das Kissen. Tagelang war sie für keinen Trost erreichbar gewesen. Abwechselnd hatte sie sich stundenlang verstockt geweigert zu sprechen und dann in explosiven Wutanfällen mit Spielsachen um sich geworfen, aber im Schlaf zerfloss ihre Abwehr, und sie wurde wieder zum Kind: vertrauensvoll und friedlich
Wie heißt du?, dachte Lila. Von wem träumst du?
Sie streckte die Hand aus, um das Haar des Mädchens zu berühren, aber dann ließ sie es. Das Kind würde nicht aufwachen; das war nicht der Grund. Vielmehr war Lilas Hand unwürdig. So viele Evas im Laufe der Jahre. Und doch hatte es immer nur eine gegeben.
Es tut mir leid, kleines Mädchen. Du hast das nicht verdient. Keine von ihnen hatte es verdient. Ich bin die selbstsüchtigste Frau auf der ganzen Welt. Aber was ich getan habe, habe ich aus Liebe getan. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.
Das Kind bewegte sich, zog die Decke fester um sich und drehte Lila das Gesicht zu. Ihr Kiefermuskel spannte sich, und sie stöhnte leise. Würde sie aufwachen? Aber nein. Ihre Hand schob sich unter die Rundung der Wange, ein Traum ging in den nächsten über, und der Augenblick war vorbei.
Es ist besser so, dachte Lila. Besser, wenn ich einfach nicht mehr da bin. Behutsam erhob sie sich von der Bettkante.
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