Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Shadowdale« ankam. Der Parkplatz war leer, und am Eingang brannte eine einzige Lampe. Als er eintrat, stellte er fest, dass der Empfang nicht besetzt war. Ein leerer Rollstuhl stand daneben, ein zweiter im Flur. Nirgends war ein Geräusch zu hören. Wahrscheinlich beobachteten ihn Überwachungskameras, aber wer würde sich die Aufzeichnungen ansehen?
Sein Vater lag im Dunkeln in seinem Bett. Es roch scheußlich im Zimmer. Seit Stunden, vielleicht schon den ganzen Tag war niemand mehr hier gewesen. Auf dem Tablett neben dem Bett seines Vaters hatte jemand ein Dutzend Gläser Gerber’s Babynahrung und eine Karaffe mit Wasser hinterlassen. Ein umgestoßener Becher verriet ihm, dass sein Vater versucht hatte, von dem Wasser zu trinken, das Essen hatte er jedoch nicht angerührt. Selbst wenn er es versucht hätte, wäre sein Vater nicht fähig gewesen, die Gläser zu öffnen.
Guilder hatte nicht viel Zeit, aber dies konnte er nicht hastig erledigen. Die Augen seines Vaters waren geschlossen, die Stimme– die Tyrannenstimme– war stumm. So war es auch besser, dachte er. Die Zeit zum Reden war vorbei. Er durchstöberte seine Erinnerung nach etwas, das in Zusammenhang mit seinem Vater erfreulich gewesen war, so dürftig es auch sein mochte. Das Beste, was ihm einfiel, war ein Tag, an dem sein Vater mit ihm in einen Park gegangen war, als Guilder noch klein war. Die Erinnerung war verschwommen– womöglich war es nie passiert–, aber etwas anderes hatte er nicht. Ein Wintertag, Guilders Atem wölkte vor seinem Gesicht. Kahle Bäume, die auf- und abwippten, als sein Vater ihn auf der Schaukel anstieß. Die große Hand des Mannes in seinem Kreuz, wie sie ihn auffing und in den Himmel hinaufbeförderte. Mehr wusste Guilder von diesem Tag nicht mehr. Er war vielleicht fünf gewesen.
Als er das Kissen unter dem Kopf seines Vaters hervorzog, flatterten die Lider des Alten, doch die Augen öffneten sich nicht. Dies war der Abgrund, dachte Guilder, der Augenblick des Sterbens, die Tat, die, einmal getan, nicht ungeschehen gemacht werden konnte. Er dachte an das Wort Patrizid, vom lateinischen pater, der Vater, und caedere, töten. Er hatte nicht den Mut gehabt, sich selbst zu töten, aber als er das Kissen auf das Gesicht seines Vaters drückte, verspürte er kein Zögern. Er hielt das Kissen bei den Rändern fest und drückte immer kräftiger, bis er sicher war, dass keine Luft an die Nase oder den Mund seines Vaters dringen konnte. Eine Minute verstrich. Guilder zählte lautlos die Sekunden. Die Hand seines Vaters auf der Bettdecke zuckte unruhig. Wie lange würde es dauern? Woran würde er erkennen, dass es vorbei war? Wenn es mit dem Kissen nicht klappte, was dann? Er beobachtete die Hand seines Vaters, sie bewegte sich nicht mehr. Nach und nach begriff er, dass die Reglosigkeit des Körpers unter seinen Händen nur eins bedeuten konnte: Sein Vater atmete nicht mehr.
Er nahm das Kissen weg. Das Gesicht seines Vaters war unverändert, als bedeute der Übergang in den Tod nur eine kaum merkliche Veränderung seines Zustands. Guilder schob seinem Vater sanft eine Hand unter den Kopf und legte das Kissen wieder an seinen Platz. Er versuchte nicht, sein Verbrechen zu verbergen– er bezweifelte, dass noch jemand kommen und den Tod des alten Mannes untersuchen würde–, aber sein Vater sollte auf einem Kissen liegen, zumal es wahrscheinlich noch sehr lange dauern würde, bis jemand ihn fand. Guilder hatte erwartet, dass in diesem Moment eine Woge der Gefühle über ihn hinwegrauschen würde, dass all der Schmerz und Groll in ihm entfesselt werden würden. Seine furchtbare Kindheit. Das einsame Leben seiner Mutter. Sein eigenes ödes und liebloses Dasein, in dem nur eine gemietete Frau ihm Gesellschaft geleistet hatte. Aber er empfand nichts als Erleichterung. Die ernsthafteste Prüfung seines Lebens, und er hatte sie bestanden.
Draußen auf dem Flur war alles still und unverändert. Wer konnte sagen, welche Schmach sich hinter den anderen Türen verbarg, wie viele Familien vor der gleichen grausamen Entscheidung standen? Guilder sah auf die Uhr; zehn Minuten waren vergangen, seit er das Gebäude betreten hatte. Nur zehn Minuten, trotzdem war jetzt alles anders. Er war anders, die Welt war anders. Sein Vater war nicht mehr dabei. Erst jetzt, wo es vorbei war, traten ihm die Tränen in die Augen.
Mit schnellen Schritten ging er den Flur hinunter, vorbei am leeren Aufenthaltsraum und am leeren Schwesternzimmer und immer
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