Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
weiter, hinaus in den frühen Morgen.
15
Es war spät am zweiten Tag, und sie näherten sich der Grenze nach Missouri, als Grey vor ihnen ein Hindernis sah. Sie waren mitten im Nirgendwo, meilenweit entfernt von der nächsten Stadt. Grey hielt an.
Lila blickte von der Elternzeitschrift auf, in der sie gelesen hatte: Today’s Parenting. Grey hatte sie und einen Stapel andere in einem Mini-Mart in Ledeau für sie geholt: Family Life, Baby and Child, Modern Toddler. Im Laufe dieses Tages hatte ihr Benehmen ihm gegenüber sich ein wenig geändert. Vielleicht war es auf Dauer einfach zu anstrengend, bei der Fiktion zu bleiben, dass ihre Reise nur ein kleiner harmloser Ausflug sei. Lila war zunehmend ungeduldig und redete mit ihm wie mit einem schwerfälligen Ehemann.
» Jetzt sehen Sie sich das an.« Sie ließ die Zeitschrift auf den Schoß fallen. Auf dem Titelblatt war ein rotwangiges kleines Mädchen in einem rosa Trägerkleidchen abgebildet. Wenn’s beim Spielen Streit gibt, stand daneben. » Was ist denn das da vorn?«
» Ich glaube, es ist ein Panzer.«
» Was macht er da?«
» Vielleicht ist er verloren gegangen oder so.«
» Ich glaube nicht, dass man einen Panzer verlieren kann, Lawrence. Verzeihen Sie, haben Sie vielleicht meinen Panzer gesehen? Ich weiß genau, er war hier irgendwo.« Sie tat einen tiefen Seufzer. » Wer parkt denn einen Panzer mitten auf der Straße? Die werden ihn wegfahren müssen.«
» Sie wollen sagen, ich soll sie darum bitten«, stellte Grey fest.
» Ja, Lawrence. Genau das will ich sagen.«
Er wollte nicht, aber ein Nein kam anscheinend nicht in Frage. Also stieg er aus, hinaus in die Abenddämmerung. » Hallo?«, rief er. Und noch einmal: » Hallo?« Er sah sich nach Lila um, die den Kopf schräg durch das offene Beifahrerfenster streckte und ihn beobachtete. » Ich glaube, er ist leer.«
» Vielleicht kann man Sie nur nicht hören.«
» Lassen Sie uns zurückfahren. Wir suchen uns eine andere Straße.«
» Es geht ums Prinzip. Die dürfen nicht einfach die Durchfahrt blockieren. Versuchen Sie es doch bei der Luke. Ich bin sicher, da ist jemand drin.«
Das bezweifelte Grey– der Panzer sah verlassen aus–, aber er wollte keinen Streit anfangen. Er kletterte auf die freiliegende Laufkette und stemmte sich oben auf den Turm. Er beugte sich über die Luke, doch drinnen war es so dunkel, dass er nichts sehen konnte. Jetzt stand Lila unten am Panzer. Sie hatte eine Taschenlampe in der Hand.
» Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist«, sagte Grey.
» Das ist doch nur ein Panzer, Lawrence. Ehrlich. Manchmal seid ihr Männer wirklich alle gleich, wissen Sie das?«
Sie reichte ihm die Taschenlampe hinauf. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig. Er richtete den Lichtstrahl in die Luke und schaute hinein.
Jesus fuck.
» Und? Was ist da unten?«
Grey schätzte, dass es zwei Männer gewesen waren; leicht zu erkennen war es aber nicht. Es sah aus, als habe jemand eine Handgranate hineingeworfen, so stark zerfetzt waren die Leichen der beiden Soldaten. Es war aber keine Granate gewesen.
Siehst du, Grey?
Er schrak hoch, als habe er einen Stromschlag bekommen. Die Stimme. Nicht wie die in der Garage. Die Stimme war in seinem Kopf. Zeros Stimme. Lila starrte ihn von unten herauf an. Er wollte etwas sagen, wollte sie warnen, aber kein Wort kam aus seinem Mund.
Bist du … hungrig, Grey?
Ja, das war er. Nicht bloß hungrig: verschmachtet. Das Gefühl schien ihn vollständig zu erfassen, jede Zelle, jedes Molekül, die winzigen Atome, die in ihm umeinander schwirrten. Noch nie in seinem Leben hatte er einen so übermächtigen Hunger verspürt.
Das ist mein Geschenk an dich. Das Geschenk des Blutes.
Er schluckte. » Ich bin… gleich wieder da.«
Er stürzte sich in die Luke. Die Lampe hatte er fallen gelassen, aber das machte nichts. Das dunkle Innere des Panzers war hell für seine Augen, und jede Fläche leuchtete, überzogen mit einer wunderbaren Schicht Blut. Ein titanisches Verlangen packte ihn, und er drückte sein Gesicht an den kalten Stahl, um mit der Zunge darüber hinwegzustreichen.
» Lawrence! Was machen Sie denn da?«
Jetzt war er auf Händen und Knien dabei, den Boden abzulecken und die sirupartigen Überreste aufzuschlürfen. So wunderbar! Als habe er seit einem Jahr nichts gegessen, seit zehn, seit hundert Jahren, nur um jetzt das üppigste Bankett in der Geschichte der Welt serviert zu bekommen! Sämtliche Freuden des Leibes verschmolzen zu einer
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