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Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)

Titel: Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Cronin
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hören, dass sie in ein, zwei Tagen sowieso alle weg sein würden. Ein paar Jungen spielten vor dem Drahtzaun und kickten einen halb erschlafften Fußball im Staub herum. Guilder sah ihnen einen Augenblick lang zu. Die Welt mochte auseinanderfallen, aber Kinder blieben Kinder; im Handumdrehen konnten sie alle ihre Sorgen beiseiteschieben und sich im Spiel verlieren. Vielleicht war es das, was er bei Shawna empfunden hatte: ein paar Minuten, in denen er der Junge sein konnte, der er nie gewesen war. Vielleicht war das alles, was er sich gewünscht hatte– was alle Welt sich wünschte.
    Aber Lawrence Grey: Etwas an dem Mann ließ ihm keine Ruhe, und es war nicht nur seine unglaubliche Geschichte oder der unwahrscheinliche Zufall, dass die Frau bei ihm die Ehefrau von Special Agent Wolgast sein sollte. Es war die Art, wie Grey von ihr geredet hatte. Bitte tun Sie ihr nichts. Ich bin’s doch, den Sie haben wollen. Tun Sie Lila nichts. Guilder hätte nie vermutet, dass Grey sich so um einen anderen Menschen sorgen würde, schon gar nicht um eine Frau. Alles in seiner Akte hatte bei Guilder den Eindruck hinterlassen, der Mann sei bestenfalls ein Einzelgänger und im schlimmsten Fall ein Soziopath. Doch Greys Flehen, Lila nichts anzutun, kam offensichtlich von Herzen. Etwas war zwischen den beiden geschehen, das sie miteinander verband.
    Er schaute hoch, und sein Blick erfasste das ganze Camp. All diese Leute– sie saßen in der Falle, und nicht nur wegen des Drahtzauns, der sie umgab. Physische Barrikaden waren nichts im Vergleich mit den Drähten des Geistes. Was sie wirklich einsperrte, waren sie selbst. Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Freunde und Freundinnen: Was ihnen ihrer Meinung nach bislang Kraft im Leben gegeben hatte, war nun ihr wunder Punkt. Guilder dachte an das Ehepaar, das bei seinem Townhouse auf der anderen Straßenseite gewohnt hatte– wie sie ihre schlafende Tochter gemeinsam zum Auto getragen hatten. Wie schwer ihnen diese Bürde gewesen sein musste. Und wenn das Ende auf sie alle herabkäme, würden sie die Welt in einer Woge des Leidens verlassen, und der Verlust des Kindes würde ihre Qualen millionenfach verstärken. Würden sie zusehen müssen, wie sie starb? Würden sie als Erste umkommen und dabei wissen, was aus ihr werden würde, wenn sie nicht mehr da wären? Was war besser? Aber die Antwort war: Keins von beidem. Die Liebe hatte ihren Untergang besiegelt. Das war es, was die Liebe tat. Guilders Vater hatte ihm diese Lektion erfolgreich erteilt.
    Er würde bald sterben. Das war unbestreitbar, unabänderlich. Ebenso wie die Tatsache, dass Lawrence Grey– dieser entbehrliche Nobody, dieser verdammte Hausmeister, ein Mann, der in seinem erbärmlichen Leben nichts als Elend in die Welt gebracht hatte– nicht sterben musste. Irgendwo in Lawrence Greys Körper lag der geheime Schlüssel zur ultimativen Freiheit, und Horace Guilder würde ihn finden und für sich behalten.

18
    Die Tage schlichen vorbei. Und noch immer hörte man nichts von den Bussen.
    Alle waren unruhig. Draußen vor dem Zaun kamen und gingen Soldaten, und es wurden weniger. Jeden Morgen ging Kittridge zur Baracke, um sich nach der Lage zu erkundigen, und jeden Morgen kam er mit der gleichen Antwort zurück: Die Busse sind unterwegs, haben Sie Geduld.
    Einen ganzen Tag lang regnete es, und das Camp verwandelte sich in ein riesiges Schlammbad. Dann war die Sonne wieder da und überzog jede Fläche mit einer Kruste aus trockener Erde. Jeden Nachmittag kamen neue Essensrationen, die von der Ladefläche eines Fünftonners der Army geworfen wurden, aber nie gab es Neuigkeiten. Die Chemietoiletten verfaulten, und die Mülltonnen flossen über. Stundenlang behielt Kittridge das Tor im Auge, doch es kamen keine Flüchtlinge mehr. Mit jedem Tag, der verging, erschien ihm das Camp mehr und mehr wie eine Insel in einem feindseligen Ozean.
    Vera, die Rot-Kreuz-Helferin, die bei der Anmeldung als Erste mit ihnen gesprochen hatte, hatte er sich zu seiner Verbündeten gemacht. Sie war jünger, als er zunächst gedacht hatte, eine Krankenpflegeschülerin vom Midwest State College. Wie alle zivilen Mitarbeiter sah sie restlos erschöpft aus. Die tagelange Anspannung lag schwer auf ihrem Gesicht. Sie konnte verstehen, dass er frustriert war; das waren alle. Auch sie hatte auf die Busse gehofft; sie war gestrandet wie alle andern. Einmal hieß es, sie kämen aus Chicago, am nächsten Tag aus Kansas City, und dann wieder hieß es, aus

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