Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
Ränder ihres Gesichtsfelds waren schwarz verschleiert. Brad?, fragte sie. Bist du da? Die schwarzen Schleier hoben sich wie ein Bühnenvorhang, und Lila sah, dass es wirklich Brad war. Eine golden schimmernde Glückseligkeit, schwerelos wie die Junisonne, ließ ihren ganzen Körper vibrieren. Gleich sind wir da, mein Schatz, sagte Brad. Jeden Augenblick sind wir da. Halte nur durch. Das Kind kommt. Das Kind ist praktisch schon hier.
Das waren die Worte, die Lila zu sich selbst sagte– das Kind kommt, das Kind kommt–, als eine heftige Explosion den Raum erschütterte. Glas klirrte, Gegenstände fielen herunter, der Boden unter ihr bäumte sich auf wie ein kleines Boot auf dem Meer, und sie fing an zu schreien.
21
Der Viral-Schwarm, der in den frühen Morgenstunden des 9. Juni von Osten her über das Flüchtlingskoordinationscenter Iowa hereinbrach, war Teil einer größeren Masse, die sich von Nebraska her sammelte. Spätere Schätzungen der Gemeinsamen Einsatzgruppe mit dem Codenamen BRANDFACKEL bezifferten seine Größe unterschiedlich; manche sprachen von fünfzigtausend Exemplaren, andere von sehr viel mehr. In den folgenden Tagen verschmolz der Schwarm mit einem zweiten, größeren, der sich von Missouri nordwärts bewegte, und einem dritten, noch größeren, der von Minnesota nach Süden zog. Die Zahl schwoll die ganze Zeit an. Als sie Chicago erreichten, waren sie eine halbe Million; sie durchbrachen den Verteidigungsring am 17. Juli und hatten die Stadt innerhalb von vierundzwanzig Stunden überwältigt.
Die ersten Virals kamen um 04Uhr58 Central Daylight Time ( CDT ) durch den Zaun des Flüchtlingskoordinationscenters in Iowa. Um diese Zeit waren in den zentralen und östlichen Regionen des Staates seit achtundvierzig Stunden ausgedehnte Luftwaffeneinsätze im Gange, und bis auf die in Dubuque waren alle Brücken über den Mississippi bereits zerstört. Die Einsatzgruppe hatte den Zeitpunkt des Quarantänebeginns absichtlich falsch angegeben. Man hoffte nämlich, die Menschenansammlung in der Quarantänezone werde den Virals als Köder dienen und sie veranlassen, sich in bestimmten Bereichen zusammenzuziehen, sodass eine Bombardierung aus der Luft weit wirkungsvoller vorgenommen werden könnte. Die treffendste Analogie stammte von einem Mitglied der Einsatzgruppe: Man benutzte eine Salzlecke, um Rotwild zu schießen. Die Flüchtlinge dranzugeben war der Preis, der in einem beispiellosen Krieg bezahlt werden musste. Und diese Leut e ha tten so und so nichts anderes zu erwarten als den sicheren Tod.
Major Verlinda Porcheki von der Iowa National Guard– im Zivilleben Gebietsleiterin einer Firma für Damensportbekleidung– wusste nichts von der Mission der GEG BRANDFACKEL , aber sie war nicht dumm. Sie war ein erstklassig ausgebildeter Offizier mit Tapferkeitsauszeichnungen aus drei verschiedenen Konflikten und außerdem eine fromme Katholikin, die in ihrem Glauben Trost und Anleitung fand. Die Entscheidung, die ihrem Schutz anvertrauten Flüchtlinge nicht zu verlassen, wie man es ihr befohlen hatte, folgte unmittelbar aus dieser tieferen Überzeugung, genau wie der Entschluss, die letzten Energien ihres Lebens und die der Soldaten, die sich noch unter ihrem Kommando befanden– hundertfünfundsechzig Männer und Frauen, die praktisch ohne Ausnahme am Zaun auf der Westseite in Stellung gingen–, darauf zu verwenden, den Fluchtbussen Deckung zu geben. Inzwischen rannten die Zivilisten, die zurückgelassen worden waren, hinter den Fahrzeugen her und schrien, sie sollten anhalten, aber da war nichts zu machen. Tja, dachte Porcheki, das war’s. Ich hätte mehr gerettet, wenn ich gekonnt hätte. Ein blassgrünes Licht war im Westen aufgetaucht, eine Wand, die vibrierend strahlte wie eine leuchtende Hecke. Kampfjets rasten darüber hinweg und entließen ihre wütende Last ins Herz des Schwarms: Leuchtspurgeschosse, Flammenstöße. Donner spaltete die Luft. Aus den Schneisen der Zerstörung kam der Schwarm wieder hervor und näherte sich weiter. Porcheki sprang aus ihrem Humvee, bevor er zum Stehen gekommen war, und schrie ihre Befehle– » Feuer einstellen! Wartet, bis sie am Zaun sind!« Dann sank sie in Schussposition– sie hatte keine Befehle mehr zu geben und würde sich dem Feind unter denselben Bedingungen stellen wie ihre Leute– und fing an zu beten.
Die Zeit selbst geriet in Unordnung. Mitten im Chaos überlagerten sich einzelne Leben auf unvorhergesehene Art. Im Kellergeschoss der ABC -Anlage
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