Die Zypressen von Cordoba
Leiden der Menschen zu lindern, die sich
hilfesuchend an mich wenden.«
Genau wie sie es als kleines Mädchen gemacht hatte, schaute
Dalitha mit grenzenloser Bewunderung zu Hai auf.
»Siehst du die Holzstücke mit den seltsamen Blättern in dem
Eimer da drüben?« fuhr Hai fort, eifrig bemüht, sie mit sich zu ziehen,
ihr nahezubringen, welche Herausforderung diese Pflanzen für ihn
bedeuteten. »Wenn Ralambo uns nicht alle an der Nase herumgeführt hat,
dann liefern sie uns vielleicht ein Heilmittel, von dem wir niemals zu
träumen gewagt hätten. Aber es ist noch viel zu tun; ehe wir sie genau
erforschen können.«
»Was denn?« fragte sie, nachdem seine Begeisterung ihre
Neugier erregt hatte.
»Erst einmal müssen wir sie hegen und pflegen, bis sie stark
genug sind, um in den Boden gepflanzt zu werden und Wurzeln zu
schlagen. Dann müssen wir ihnen Bedingungen schaffen, die denen ihres
normalen Lebensraums so ähnlich wie möglich sind, insbesondere müssen
wir sie vor der Winterkälte schützen. Wenn uns all das gelingt, müssen
wir geduldig warten, bis sie genügend gesunde, fleischige Blätter
bekommen haben, aus denen wir reichlich Saft gewinnen können. Erst
nachdem dieser Saft zu Pulver eingedampft ist, können wir unsere
Patienten mit dem Extrakt behandeln und die Ergebnisse untersuchen.«
»Was für ein langes, mühseliges Unterfangen! Ich könnte dir
doch dabei helfen, nicht wahr, so wie ich dir mit dem Senf und dem
Lavendel geholfen habe?« Ein Anflug ihrer alten Zaghaftigkeit kehrte
zurück, als Dalitha fragend zu ihm, dem blauäugigen Helden ihrer
Kindheit, aufblickte.
»Statt daß ich Gedichte schreibe, um dir zu helfen, wie ich unserer gemeinsamen Schwester geholfen
habe?«
»Ich habe nicht Amiras Begabung für die Dichtkunst, aber Vater
unterweist mich neuerdings in der Kunst des Übersetzens.«
»Gefällt dir das?«
»Ich bin noch nicht gut genug, um das beurteilen zu können.
Aber Vaters Plan, arabische Werke ins Hebräische zu übersetzen, damit
auch die Juden anderer Länder Zugang zu dem darin enthaltenen Wissen
haben, scheint mir eine sehr lobenswerte Aufgabe zu sein.«
»Nun, da du eine so schwere Bürde auf deinen hübschen
Schultern hast, wirst du wohl kaum noch die Zeit finden, meine
jämmerlichen Pflanzen zu pflegen?« neckte sie Hai mit der jungenhaften
Fröhlichkeit, die sie immer so gemocht hatte.
Sie sprachen so leichthin und so lange miteinander, daß sie
gar nicht bemerkten, wie die Sonne am blassen Spätsommerhimmel immer
tiefer sank. »Du liebe Güte, ich muß mich rasch baden und umkleiden,
wenn ich noch rechtzeitig zum Sabbatgottesdienst kommen will«, rief Hai
aus. »Mutter leistet dir sicher nur zu gern Gesellschaft, bis ich
wieder zu Hause bin. Was für eine Freude, dich heute abend zum Essen zu
Gast zu haben! Seit Vater gestorben ist, ist es hier so traurig und
einsam geworden.«
Grenzenlose Liebe und Bewunderung strahlten aus den Augen der
beiden Frauen – die eine nahe dem Ende ihres Lebensbogens, die
andere zögernd am Anfang –, als Hai, der sich in sein dunkles,
feierliches Gewand gekleidet hatte, sie noch beide küßte, ehe er zur
Synagoge aufbrach, genau wie es bei den Ibn Yatoms immer schon
Tradition gewesen war.
Von diesem Tag an war Dalitha häufig in dem
großen Haus in Córdoba zu Gast. Als die ersten Winterfröste einsetzten,
ließ Hai Djamilas alte Gemächer ausräumen und dort eine zusätzliche
Feuerstelle einbauen, die die Wärme spendete, die seiner Meinung nach
für das Überleben der Aloepflanzen notwendig war.
»Sie scheinen zu wachsen und zu gedeihen«, sagte er zu
Dalitha, als sie die Eimer gemeinsam dorthin brachten. »Die Blätter
sind nicht mehr bräunlich, sondern werden wunderbar grün. Aber wir
halten sie doch besser bis zum Frühjahr noch in Wasser. Während ich im
Hospital bin, werden meine Mutter und die Diener dafür sorgen, daß sie
immer in einer angenehmen Temperatur stehen, aber ich möchte außerdem,
daß du nach ihnen siehst, wenn du hier bist.«
Wenn sie bei den Aloen fertig war, setzte sich Dalitha zu
Sari, bis Hai nach Hause kam, und hörte ihr zu, wie sie sich nach Art
der Alten an vergangene Zeiten erinnerte. Aus ihren Erzählungen
entstand vor Dalithas Augen ein Ebenbild Da'uds, das sich sehr von dem
Bild unterschied, das sich Dalitha aus den Gesprächsfetzen gebildet
hatte, die sie in ihrer Kindheit aufgeschnappt hatte. So lernte sie, wo
die Quelle für Hais unendliches Mitgefühl war, für
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