Die Zypressen von Cordoba
Menschen als ich haben gesucht und nichts
gefunden. Warum sollte ich es mir anmaßen? Ich bete nur, daß ich so
ruhig aus dem Leben scheiden kann, wie ich habe leben dürfen.«
Und so war es auch. Eines Morgens wachte Hai auf und fand
seine Mutter, die mit einem ruhigen Ausdruck auf dem Gesicht friedlich
in die ewige Ruhe eingegangen war.
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N ach dem Tod seiner Mutter war in Hai etwas
zerbrochen. Sein Mitgefühl und seine Empfindsamkeit, die ihn zu einem
großen Arzt hatten werden lassen, machten ihn nun so verletzlich, daß
er den Verlust all jener, die ihm so lieb gewesen waren, nicht
verwinden konnte. Es war, als hätte man ihm einen Teil seiner selbst
fortgerissen und eine klaffende Wunde hinterlassen, die nicht heilen
wollte. Er suchte Trost bei Dalitha, er brauchte sie so sehr, daß sie
selbst aus ihrem stummen Schmerz gerissen wurde. So wie Hai anderen
beigestanden, ihnen großzügig gegeben hatte, bis seine eigene innere
Quelle versiegt war, mußte nun sie ihm beistehen. Ihre Traurigkeit band
sie nur noch fester aneinander und verlieh ihrer Liebe, die sie schon
seit Kindertagen vereinte, neue Tiefe und Reife.
Ein Jahr nach Saris Tod wurde ihr zweiter Sohn Natan geboren.
In der Sorge um dieses neue Leben fand Hai den Balsam für seine wunde
Seele.
Amram faßte sofort Abneigung gegen das schrumpelige,
schreiende Geschöpf, das ihm seinen Platz als Dreh- und Angelpunkt des
gesamten Haushalts strittig machte. Obwohl sie sich seiner Reaktion
bewußt waren, konnten ihn weder Hai noch Dalitha ganz dafür
entschädigen, daß nun ein Teil ihrer Aufmerksamkeit dem kleinen Bruder
galt. Mit der Zeit wurde seine Abneigung eher größer, sie schwelte noch
viele Jahre in seinem Herzen.
Als die Kinder heranwuchsen, nahm auch die Verblüffung ihrer
Eltern über ihre gegensätzlichen Persönlichkeiten zu. Während Natan die
Empfindsamkeit und Sanftheit seines Vaters geerbt zu haben schien, war
Amram seinen Eltern so wenig ähnlich, daß sie manchmal kaum ihren Sohn
in ihm erkannten. Kurz nach Natans Geburt entwickelte Amram eine
Aggressivität, die die friedliche Atmosphäre im Haus empfindlich
störte. Stundenlang zog er sich zurück, war völlig vertieft in die
Schlachten, die er zwischen gegnerischen Armeen aus Zinnsoldaten
austrug, und die markerschütternden Schreie, mit denen er die Angriffe
begleitete, hallten durch das Haus und beunruhigten Hais wartende
Patienten zutiefst. Natan, den die grellbunten kleinen Figuren
faszinierten, näherte sich schüchtern seinem älteren Bruder und wollte
gern beim Kriegsspiel mitmachen, doch der schubste ihn nur unsanft weg,
schloß ihn von den triumphalen Siegen seiner aufregenden Feldzüge aus.
Niedergeschlagen tippelte Natan dann zur Mutter und kuschelte sich an
ihre Knie, um seinen Kummer zu verbergen. Dalithas Herz war voller
Mitleid für ihn, und sie unterbrach ihre hebräische Übersetzung von
Abu'l Kasims neuestem Aufsatz und nahm den Kleinen auf den Schoß, um
ihn zu trösten.
Obwohl Amram sich, wie seine Vorwitzigkeit als kleines Kind
hatte vermuten lassen, zu einem hervorragenden Schüler entwickelte,
zeigte er wenig Eignung für die Medizin, wie es sein Vater gewünscht
hätte. Der rastlose junge Mann verschwand immer öfter aus dem
Elternhaus vor der Stadt, oft länger, als Hai für angebracht hielt.
Wenn er ihn dann fragte, wo er gewesen sei, erklärte er, er habe bei
muslimischen Freunden in Córdoba Arabisch gelernt. Aber das stimmte nur
zum Teil. Die meiste Zeit verbrachte er damit, durch die Straßen und
Märkte der vor Menschen wimmelnden Stadt zu streifen und aufmerksam
allen Gesprächen zu lauschen, die um ihn herum brandeten.
Wenn er von seinen Streifzügen durch die Stadt zurückkehrte,
wurden die Gespräche mit seinem Vater in einem Ton geführt, den man
zuvor innerhalb der ruhigen Mauern des Hauses nie vernommen hatte.
Warum, wollte Amram wissen, hatte sein Vater in voller Absicht dem Hof
den Rücken gekehrt, wo dort doch die Quelle aller wirklichen Macht lag?
Und wenn er sich schon entschlossen hatte, der Macht und dem Einfluß zu
entsagen, warum waren ihm dann auch weltliche Güter gleichgültig, die
einzige andere Art der Macht, die als Verteidigung und Schutz dienen
konnte? Warum weigerte er sich, von den meisten Patienten jegliche Form
der Bezahlung anzunehmen, und akzeptierte selbst von denen, die es sich
leisten konnten, nur symbolische Honorare?
Ruhig und geduldig erklärte Hai seinem rebellischen Sohn, er
habe genug Leid gesehen, um den
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