Die Zypressen von Cordoba
zu diesem
Mädchen, von dem er nichts wußte, am besten einen mit Sinn erfüllten
Kontakt aufbauen sollte. Davon hatten ihm seine Bücher wahrhaft nichts
gesagt … Doch ehe er noch Zeit hatte, sich eine angemessene
Vorgehensweise zu überlegen, trat Sari schon aus dem Haus und ging auf
dem Weg zu den Frauengemächern über den Innenhof.
»Komm her zu mir«, sagte er spontan. »Komm und setz dich ein
Weilchen zu mir an das Wasserbecken.«
Wie an dem Tag, an dem er ihr zum erstenmal begegnet war,
erhob sie die Augen einen flüchtigen Augenblick zu ihm –
dieses Blitzen des tiefsten Meerblaus – und senkte sie dann
rasch wieder, ehe sie sich steif ein wenig abseits von ihm hinsetzte,
den Kopf gesenkt, die Hände lose zwischen den Knien gefaltet.
»Sag mir, Sari, bist du glücklich hier bei uns in Córdoba?«
»Glücklich?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme, den Blick
starr auf ihre Knie gerichtet.
»Ja.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich weiß, was Glück ist.«
»Zufrieden dann wenigstens, oder zumindest nicht unglücklich?«
»Weniger unglücklich als ich je war, außer … « Sie verstummte.
»Außer?«
»Außer an dem Tag, als mich der Händler mit sich fortnahm.«
»Wo?«
»Da.«
»In Prag?«
Sie nickte.
»Fort von wem?«
»Von niemand. Da war niemand.«
»Der Händler hat mir erzählt …«
Aber ehe er seinen Satz noch zu Ende sprechen konnte, erhob
sich Sari unvermittelt und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer.
»Gute Nacht, Herr.«
»Warte!« rief er ihr hinterher. »Warte! Ich möchte dich um
einen kleinen Gefallen bitten. In meinem Zimmer steht auf dem
Fensterbrett eine kleine Sammlung von Pflanzen, die der ständigen
Pflege bedürfen. Meine neuen Pflichten bei Hofe werden mich sehr in
Anspruch nehmen, und ich fürchte, ich könnte die Pflanzen
vernachlässigen. Ist es zu viel verlangt, wenn ich dich bitte, dich um
sie zu kümmern?«
»Wie Ihr wünscht, Herr.«
»Wenn ich am Sabbatmorgen aus der Synagoge zurückkomme, wollen
wir die Pflanzen zusammen ansehen.«
»Wie Ihr wünscht«, wiederholte sie. »Gute Nacht, Herr.«
»Es geziemt sich nicht, daß du mich Herr nennst«, sagte er und
stand auf, um ihr zu folgen. »Du bist frei, Sari, niemandem Untertan.«
»Frei?«
»Ja, frei.«
»Niemand ist frei. Niemand kann allein existieren, und da
jeder Mensch jemanden braucht, kann niemand frei sein.«
»Frei in dem Sinne, daß du das Leben wählen kannst, das du zu
leben wünschst.«
»Um auswählen zu können, muß man Alternativen haben. Ohne
Alternative kann es keine Wahl geben. Ich muß gehen, Meister. Gute
Nacht.«
Da'ud war wie vor den Kopf gestoßen. So viel
Hoffnungslosigkeit in einem so jungen Geschöpf, solch klares Denken,
solch kalte Verzweiflung! Nur tiefstes menschliches Leid konnte sie so
verbittert haben. Was war schlimmer? fragte er sich. Ein Körper, den
die Schmerzen peinigten, oder eine Seele, die eine menschliche Tragödie
zerstört hatte? Einer Sache war er sich sicher: es war weniger
anmaßend, den Verlauf eines menschlichen Schicksals ändern zu wollen,
als um das Leben eines Sterbenden zu ringen. Kein Mensch, der nach
Gottes Ebenbild geschaffen war, verdiente es, sein Leben ohne die
Aussicht auf Glück zu fristen. Das zumindest mußte er Sari geben, ihr
so anbieten, daß sie es willentlich annahm … Die ganze Nacht
hindurch wälzte sich Da'ud im Bett, ständig von einem Alptraum
heimgesucht: Ihm träumte von einem kleinen, blau gefrorenen Kind, das
man in einer jungfräulich weißen Schneewehe ausgesetzt hatte. Jedesmal
kam er, nachdem er sich mühsam durch den knietiefen Schnee gekämpft
hatte, auf Armeslänge an das Kind heran, doch da schien es in die Weiße
fortzuschmelzen, tauchte weiter oben an einem endlosen Hang wieder auf,
ständig außerhalb seiner Reichweite. Erst gegen Morgen fiel er in
ruhigen Schlaf, wachte viel später als gewöhnlich auf. Der Morgen war
schon beinahe halb verstrichen, als er das Gemach neben der alten
Palastbibliothek erreichte, in dem er zusammen mit dem Mönch Nicolas
jeden Tag einige Stunden arbeitete.
»Ihr seid doch nicht krank, hoffe ich?« erkundigte sich der
griechische Gelehrte höflich, das Gesicht mit dem spitzen silbergrauen
Bart fragend zu ihm erhoben.
»Nein, nein, danke der Nachfrage. Dringende
Familienangelegenheiten haben mich aufgehalten.«
»Der Kalif hat nach Euch gefragt. Er ist in seinen Gemächern
hier im alten Palast.«
»Ich gehe unverzüglich zu ihm.«
In dem Augenblick, als er vor
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