Die Zypressen von Cordoba
Menahem ein wilder Gedanke wie
ein Blitz durch den Kopf. Amira konnte in vielerlei Hinsicht als
vaterlos gelten, war beinahe eine Halbwaise. Er, Menahem, würde also
eine heilige Pflicht erfüllen, wenn er sie in seiner Obhut wie sein
eigenes Kind aufzog. »Wahnsinn!« murmelte er vor sich hin, erstickte
diesen Gedanken gleich im Keim, kämpfte auch die Versuchung nieder, die
das sinnliche Bild Djamilas für ihn darstellte. Er verschloß seine
Gedanken vor den Stimmen der Schwestern, beugte sich erneut über den
Tisch und zwang sich, sich wieder der ordentlichen, systematischen,
alphabetischen Liste zu widmen, in der er die hebräischen Wortstämme
mit einem, zwei und drei Buchstaben zusammenfaßte, jeweils mit
Bibelversen verdeutlicht. Allmählich vertrieb ihm die vertraute Routine
die Hirngespinste und brachte seine Gedanken und Gefühle wieder ins
Gleichgewicht.
Am folgenden Donnerstagmorgen betrat Menahem
das Haus Ibn Yatom mit einem Gefühl unbestimmter Erwartung und
unterschwelliger Erregung. Was er erwartete, was der Grund für seine
Erregung war, weigerte er sich einzugestehen, denn er genoß die neuen
Gefühle und unterdrückte sie doch gleichzeitig. Da Da'ud im Norden bei
den christlichen Prinzen weilte, gab es für ihn viel zu tun, und trotz
seiner Rastlosigkeit machte er sich mit gewohntem Eifer an die Arbeit.
Der Morgen war schon halb verstrichen, ehe er den Kopf hob und zuließ,
daß die Geräusche des Haushalts in sein Bewußtsein vordrangen. Hai
wiederholte mit dem Hauslehrer seine Lektionen. Die beiden saßen
draußen unter den Zypressen in der frischen Frühlingsluft. In seinem
Käfig, der hinter ihnen an der Wand hing, kreischte der Papagei seine
verballhornte Version vom Namen seines Besitzers: »Ayi! Ayi!« Amira
quengelte, ihre Mutter solle ihr einen Kanarienvogel kaufen.
»Schon gut, aber nicht heute«, erklärte ihr Djamila.
»Warum nicht?« protestierte das Mädchen und stampfte wütend
mit dem Fuß auf. »Hai hat einen Papagei. Warum kann ich nicht einen
Kanarienvogel haben?«
»Weil heute Donnerstag ist. Am Donnerstag drängeln sich auf
dem Markt die Muslime, die ihre Einkäufe für den Freitag erledigen, und
die Juden, die für den Samstag einkaufen, und die Christen, die für den
Sonntag einkaufen. Wir gehen am Montag hin, das ist ein schöner,
ruhiger Tag, dann können wir ungestört einen Vogel aussuchen und ein
besseres Geschäft machen«, sagte sie mit fester Stimme und stand auf,
um sich ins Haus zu begeben.
Der gesunde Bauerninstinkt ist noch ganz stark in ihr zu
spüren, überlegte Menahem. Aber als er hörte, wie ihre festen Schritte
sich den Gemächern Da'uds näherten, begann er zu hoffen, daß weder die
Menschenmengen noch die Hoffnung auf ein besseres Geschäft der Grund
für ihr Zögern gewesen waren. Vielleicht lag es daran, daß heute
Donnerstag war und er sich im Hause aufhielt …
Sie betrat sein Zimmer, ohne anzuklopfen, und kam in ihrer
offenen, direkten Art gleich zum Thema.
»Ich bin hier, um mit Euch über den neuen Mädchenflügel des
Waisenhauses zu sprechen«, verkündete sie. Menahem war enttäuscht. Er
hatte sich gewünscht – und doch auch gefürchtet –,
daß sie vielleicht andere Absichten hegte …
»Wie kann ich Euch behilflich sein?«
»Ganz einfach. Wenn die Zeit gekommen ist, möchte ich mit dem
Maler selbst über die Farben und die Muster für die Innenräume
sprechen. Ich möchte, daß die Räume eine helle, fröhliche Atmosphäre
haben, nicht die traurigen Grau- und Grüntöne, die man so oft in derlei
Einrichtungen sieht. Im Leben der Waisenkinder gibt es wahrhaftig
ohnehin schon viel zu wenig Freude. Zumindest können wir ihre Phantasie
mit strahlenden Farben und Licht beflügeln.«
»Das sollte nicht schwer zu bewerkstelligen sein, da ich
zweifellos damit beauftragt werde, die Ausführung des Vorhabens zu
überwachen.«
»Wenn wir das Geld mit Bedacht ausgeben«, drängte Djamila
weiter und setzte nun erst recht auf den guten Willen, den er soeben
gezeigt hatte, »dann ist vielleicht genug übrig, um auch noch
Spielsachen und Spiele und …«
»Ich weiß, was Ihr in Wirklichkeit möchtet«, unterbrach sie
Menahem. »Bücher und eine Lehrerin für die Waisenmädchen, wie wir sie
auch den Jungen zukommen lassen. Leider kann ich Euch da nicht helfen.
Es ist eine Frage der Grundsätze, der Tradition, und die zu ändern
steht nicht in meiner Macht.«
»Zum Teufel mit der Tradition! Warum sollten wir den Mädchen
die wichtigsten
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