Dieb meines Herzens
Ungeheuer wie der andere«, gab die Frau in verschrecktem Flüsterton von sich.
Leona stutzte. »Von wem redest du? Wer ist der andere?«
»Weißt du, ich dachte erst, er wäre ein Gentleman, hübsch, wie er war.« Der Ton der Frau wurde zu einem wehmütigen Seufzen. »So fein und elegant. Und so schönes Goldhaar. Wie ein Engel aus einem alten Gemälde sieht er aus.«
Leona umklammerte den Rand ihrer Pritsche. »Goldenes Haar, sagst du?«
»Und sein Lächeln … so nett, dass man nie gedacht hätte, dass er ein Ungeheuer ist.« Ihre Stimme war heiser vor Verzweiflung. »Ich wusste, dass er ein Auge auf mich geworfen hatte, und dachte, er würde gut zahlen, doch er belog mich. Er brachte mich hier herunter in diese Hölle.«
»Allmächtiger«, flüsterte Leona. »Du bist Annie Spence.«
Annie zuckte heftig zusammen und drückte sich tiefer in den schmutzigen Winkel. »Wieso kennst du meinen Namen? Bist du auch ein Dämon?«
»Nein, ich bin kein Dämon. Annie, hör zu, das goldblonde Monster ist tot.«
»Nein, nein, Monster und Dämonen kann man nicht töten.«
»Er hieß Lancing, und ich schwöre dir, dass er tot ist.« Sie überlegte, wie sich ein Weg finden ließe, Annies Fantasiebilder zu durchdringen. »Das Monster starb, als es dem Gespenst begegnete.«
»Vom Gespenst hörte ich schon.« Hoffnung flammte kurz in Annie auf und färbte ihren Ton. »Auf den Straßen wurde von ihm allerhand gemunkelt.«
»Lancing rannte vor dem Gespenst davon und stürzte zu Tode.«
»Nein, das kann nicht wahr sein.« Annie versank wieder in Verzweiflung. »Das Monster ist ein Dämon. Nicht einmal das Gespenst kann einen Dämon töten.«
»Annie, ich sah den Leichnam mit eigenen Augen. Mehr noch, das Gespenst wird bald kommen und uns retten.«
»Niemand kann uns retten«, erklärte Annie bekümmert. »Auch nicht das Gespenst. Es ist zu spät. Wir sind schon in der Hölle gelandet.«
»Sieh mich an, Annie.«
Annie fuhr zusammen, begegnete aber Leonas Blick. »Zu spät.«
»Nein, es ist nicht zu spät«, widersprach Leona heftig. »Das Gespenst wird persönlich zu uns in die Hölle kommen und uns herausholen.«
Annies Miene verriet Zweifel.
Irgendwo außerhalb der Zelle wurde eine Tür geöffnet. Annie begrub leise schluchzend das Gesicht in den Händen.
Eine vertraute Gestalt erschien auf der anderen Seite der Gitterstäbe. Der kahle Schädel des Schuhmachers glänzte im Lampenlicht, seine Brillenfassung funkelte.
»Wie ich sehe, sind Sie wach, Miss Hewitt.« Er strahlte. »Ausgezeichnet. Ihr Publikum versammelt sich schon und erwartet, dass Sie eine glänzende Vorstellung liefern. Betrachten Sie es als den Auftritt Ihres Lebens.«
Leona rührte sich nicht von ihrem Lager. »Wer sind Sie?«
»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Dr. Basil Hulsey. Wie Sie, Miss Hewitt, bin ich Experte für Traumenergie. Anders als Sie, bin ich aber auf die Erzeugung von Albträumen spezialisiert.«
46
Shuttle, auf der Straße aufgewachsen und hart geworden, hatte im Laufe der Zeit viele Dinge gesehen, Dinge, die einem gestandenen Mann Schauer über den Rücken jagen konnten. Aber nur wenige waren so schrecklich wie die schattenhafte Gestalt, die nun vor ihm stand. Gerüchte, die über das Gespenst im Umlauf waren, hatte er immer lachend abgetan. Heute Abend verging ihm das Lachen.
»Es war für mich und Paddon ein kleiner Auftrag wie viele«, sagte er drängend und bestrebt, Glauben zu finden. »Wir taten den Damen nichts zuleide, das schwöre ich. Wir schalteten sie mit den Mixturen des Doktors nur eine Weile aus.«
»Du hast eine der Frauen gekidnappt«, sagte das Gespenst.
Shuttle zitterte. Die Stimme klang sonderbar und verwandelte die Umgebung samt dem Gespenst in Schatten. Das Phantom stand nicht mehr als ein paar Schritte entfernt, aber Shuttle konnte das Gesicht nicht erkennen. Dazu kam, dass es fast Mitternacht war. Trotzdem – in der Nähe befand sich doch eine Straßenlaterne. Er hätte das Gespenst eigentlich deutlicher sehen müssen.
»Es war keine Entführung«, sagte er bereitwillig. »Wir steckten sie in eine Kiste und verluden sie in den Wagen. Eine Entführung ist es, wenn man jemanden festhält, bis Lösegeld bezahlt wird. So war es ja nicht. Gar nicht. Nur ein Job wie sonst auch. Paddon und ich bekamen das Geld für einen Tag Arbeit, und das war’s auch schon.«
»Wohin habt ihr sie gebracht ?«
Er war der Stimme, die ihn überrollte wie eine große Woge, hilflos ausgeliefert.
Die
Weitere Kostenlose Bücher