Diebe
zu Zeiten, bevor sie ins Barrio gezogen sind. »Ich wette, ein Maultier hat mehr Einsicht als du!«
Kurz vor dem Knick in der Uferböschung bleibt sie stehen, lauscht, um festzustellen, ob er es sich noch anders überlegen will. Nichts zu hören außer dem Rauschen der Stadt, Musikfetzen und rufenden Stimmen aus dem Barrio. Sie schaut sich um, kann ihn aber nicht mehr sehen. Ist wohl wieder zurückgegangen. Den Kopf voll mit all dem Geld, das er einsacken will.
Sie dreht sich um und macht sich vorsichtig auf den Weg durch den weicher werdenden Schlamm zu ihrem Versteck.
Aufs schräge Deck gelangt, bückt sie sich nach der letzten Plastikflasche mit Wasser und schüttelt sie stirnrunzelnd. Das Ende ihrer Vorräte. Sie träufelt sich das warme Wasser auf die Füße, verreibt es, pult den grauen, glitschigen Schlamm zwischen den Zehen hervor und spart die letzten Tropfen auf, um sich die Hände zu waschen. Morgen, nachdem sie Raoul gefunden und ihn von dem Müllberg weggeholt hat, muss sie mal wieder ein paar Flaschen aufs Boot tragen.
Sie kriecht aufs Vorderdeck hoch, ihre Füße sind schon fast getrocknet in der warmen Luft und der vom Deck gespeicherten Hitze. Flussaufwärts kann sie Lichter auf der Brücke sehen, die sie morgen überqueren muss, Lastwagen vielleicht, die nach Norden fahren, reiche Leute auf dem Heimweg zu ihrem Anwesen, irgendwo hübsch abgelegen auf dem Land. Möglich, dass das die Gegend ist, aus der der Fluss früher kam, bevor mit dem großen Staudamm das ganze Wasser verschwunden ist. Sie hat mal ein Bild von dem Damm gesehen. Mama Bali hat es ihr gezeigt. Es war ein Foto in einer alten, vergilbten Zeitung und man konnte eigentlich nichts Besonderes drauf erkennen. Mama bewahrte den Artikel auf, weil er sie immer zum Lachen brachte, wie sie sagte. Da stand, dass der große Barrera del Norte jeden Haushalt in der Stadt mit Wasser und Strom versorgen würde, und außerdem hieß es, dass der Fluss in weniger als einem Jahr wieder so frei fließen würde, wie er es immer getan hat, tief und breit genug für den Schiffsverkehr bis in die Stadt. Die Zeitung war älter als Baz und der Fluss ist so trocken wie eh und je. Baz kann daran nicht viel Komisches erkennen. Was sie betrifft, so fließt der Fluss höchstens in ihren Träumen.
Sie hat keinen Zweifel, dass sie Raoul finden wird. Sie ist sich dessen so sicher, weil es richtig ist, was sie vorhat, und was richtig ist, das ist so schön, so schlank und scharf umrissen wie der blaue Stein, den Demi gestohlen hat. Aber mit dem Finden ist es ja nicht getan. Ihn da wegzubringen von diesem Berg, das wird verdammt schwer sein.
Beide Hände an der rostigen Reling, stellt sie sich auf die Zehenspitzen und streckt dann das rechte Bein nach hinten, krümmt den Rücken, hebt das Kinn und schließt die Augen, um vor sich die Tänzer an Mama Balis Wand zu sehen. Wenn sie tanzen könnte, dann wäre sie vielleicht auch einmal auf so einem Bild zu sehen; wenn sie tanzen könnte, vielleicht würde sie dann auch fliegen können, so wie es bei den Tänzern auf dem Bild den Anschein hat. Über den Fluss fliegen und Raoul finden, zurückfliegen und Demi einsammeln, bevor er irgendwas Dummes tut, nur weil Fay es ihm sagt, etwas so Dummes, dass die Greifer ihn schnappen und ins Schloss sperren.
In dieser Nacht, während sie auf ihrem Lager aus aufgeschichteten alten Kleidungsstücken und dünnen Plastikkissen liegt, der Himmel über ihr ein samtenes schwarzes, mit Sternen gespicktes Rechteck, in dieser Nacht fragt sie sich, wie es sein wird, Fay zu verlassen, das Barrio zu verlassen, und zwar endgültig. Es ist nicht nur die Sache morgen Nacht; auch wenn sie Raoul findet, kann es kein Zurück mehr geben. Fay ist dann nicht mehr sicher. Fay wird sie alle abstoßen, auch Baz und Demi.
Sie dreht sich auf die Seite. Die Augen weit offen, starrt sie in die Dunkelheit, sieht nichts, spürt ihren Hüftknochen, der durch dünne Decken auf den unebenen Metallboden drückt. Morgen wird ein Tag ohne Demi sein. Wieder wälzt sie sich herum und versucht zu schlafen, aber der Schlaf will nicht kommen. Er hat meine Hand losgelassen, sagt sie sich. Er hat meine Hand losgelassen. Ich hab ihn gebeten, mit mir zu kommen, aber er hat mich allein gehen lassen.
Als der Schlaf sich schließlich doch einstellt, gibt es keine Flüge in ihren Träumen, keine durchs ausgetrocknete Flussbett rauschenden Wasserfluten, die alles sauber waschen. Bloß ein Durcheinander rastloser Gefühle, und
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