Diebin der Nacht
Kleides sehen. Ein Täschchen mit einer Kordel zum Zusammenziehen war strategisch günstig zwischen diese beiden eingenäht worden, und zwar dort, wo es durch die voluminösen Falten verdeckt wurde. Nach jahrelanger Übung reiner Fingerfertigkeit unter Rillieuxs peinlich genauer Anleitung konnte sie nun jedes Schmuckstück so mühelos entfernen und verstecken, dass selbst jemand, der sie von nahem beobachte- te, nichts anderes sehen konnte als eine Frau, die geistesabwesend einen ihrer Ärmel richtete.
Sie nahm die Brosche heraus und reichte sie Rillieux hinüber.
Dieser entzündete ein Streichholz, dessen auflode rn der Schein glänzende Farbpunkte auf dem wunderschönen, reichlich mit Edelsteinen besetzten Stück reflektierte.
»Eine meisterhafte Anfertigung«, verkündete er in ehrfürchtigem Ton. »Mystere, ich hatte im Laufe der Jahre einige brillante Protégés. Dein Talent jedoch ist unübertroffen.«
»Talent«, wiederholte sie, wobei Bitterkeit sich in ihren Tonfall einschlich, »gehört wohl eher in den Bereich der Malerei oder der Dichtkunst, nicht jedoch in den der Diebeskunst.«
»Falsch. Auf alle Fälle einmal >stehlen< wir nicht. Das habe ich dir doch schon gesagt. Wir eignen uns etwas an. Da gibt es einen entscheidenden Unterschied. Stehlen ist niederträchtig, vulgär und gewöhnlich. Bei deiner Herkunft solltest du dich eigentlich gut daran erinnern, nicht wahr, meine Liebe? Ich selbst habe dich aus Five Points herausgeholt.«
Er grinste selbstgefällig. »Nein, im E rn st. Stehlen ist ein schändlicher, heimtückischer Akt. Aneignung hingegen ist raffiniert, anspruchsvoll und kühn. Sie bedeutet Beschlagnahme von Eigentum, ohne irgendwelchen moralischen Rechtfertigungen Beachtung zu schenken. Es ist das, was die Römer pecca fortiter nannten - kühn sündigen. Was glaubst du, wie die »oberen Vierhundert so reich geworden sind? Indem sie sich das angeeignet haben, was sie haben wollten, so läuft das nämlich.«
Das Streichholz ging aus, und Rillieux ließ das Schmuck- stück in seine Manteltasche fallen. »Wo wir gerade von den »oberen Vierhundert sprechen, was hat eigentlich Belloch zu dir gesagt? Es hat nicht nach höflichem Smalltalk ausgesehen.«
»Er verdächtigt mich. Es ist der Raub in Five Points - er erinnert sich an mich.«
»Unsinn. Das war vor zwei Jahren. Hat er dich irgendeiner Sache beschuldigt?«
»Nicht so sehr durch Worte, aber-«
»Nun komm schon, meine Liebe, du weißt doch, wie leicht erregbar du sein kannst. Du nimmst es zu wichtig; Du warst in Five Points maskiert, und außerdem siehst du nun sogar noch jünger aus mit deinen eingeschnürten weiblichen Rundungen.«
»Ja, vielleicht hält er mich für siebzehn statt für zwanzig. Das verwirrt ihn aber lediglich, es kann ihn nicht täuschen. Du hättest ihn hören sollen, wie er mich über New Orleans ausgequetscht hat. Und über dich. Er hat mich beinahe über eine Frage nach Beast Butler stolpern lassen. Gott sei Dank hatte ich die Bücher gelesen, die du mir gegeben hattest, und ich konnte mich gerade noch rechtzeitig an ihn erinnern.«
»Belloch sollte sich lieber raushalten. Meide ihn ganz einfach.«
»Ich werde es versuchen, aber was ist, wenn er mich nicht in Ruhe lässt?«
»Er wird es schon kapieren, ansonsten wird seine Neugier ihm noch zum Verhängnis werden.«
»Was bedeutet das?«, fragte sie mit einer Spur von Beunruhigung in ihrer Stimme.
»Nichts, was dich betrifft. Mach dir wegen Belloch keine allzu großen Sorgen. Er ist ein Sonderling. Es kursieren
Gerüchte, dass er nicht ganz normal sei. Irgendeine peinliche Sache mit seinen Eltern und dem Verlust ihres Vermögens.«
»Er schien mir einen recht klaren Verstand zu besitzen, Sonderling hin oder her.«
Die Kutsche überquerte den Broadway am Madison Square, dem Hotelviertel. Die Ladies’ Mile - die in der ganzen Welt unübertroffene Einkaufsmeile - erstreckte sich von der 23. Straße Süd bis zur 14. Straße. Der Marble Palace, Lord & Taylor und die anderen riesigen Warenhäuser waren zum größten Teil dunkel und ruhig. Nur das Delmonico’s Restaurant und ein paar Spezialitätengeschäfte hatten noch geöffnet.
»Paul?«, fragte sie mit nun zögernder Stimme. »Die Brosche -wird sie einen guten Preis erzielen?«
»Das hoffe ich. Das hängt jedoch ganz von Heizer ab, weißt du. Warum willst du das wissen?« Wenn eine Stimme die Stirn runzeln könnte, so hätte die seine es nun getan. Mystere hatte noch nie solche Fragen
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