Diebin der Nacht
gestellt.
»Ich ... das heißt, ich frage mich nur, ob ich nicht vielleicht einen größeren Anteil bekommen könnte?«
»Wofür denn? Bin ich dir gegenüber etwa nicht großzügig genug? Vergiss bitte nicht, dass ich für uns alle einen Haushalt zu führen habe. Du hast ein schönes Zuhause, gute Kleider, Taschengeld und freie Benutzung einer Kutsche mitsamt Kutscher.« Er drohte ihr mit dem Finger. »Meine Liebe, du musst aufhören, so mit deinem Geld herumzuwerfen.«
Einen Moment lang ließ sein tadelnder Ton ihr Gesicht vor Wut erglühen. Trotz ihrer Angst vor Belloch teilte sie in diesem Augenblick dessen offensichtliche Verachtung für die »oberen Vierhundert«. Wenn sie wirklich so überlegen und scharfsichtig waren, wie konnte dann ein so grober Betrüger wie Rillieux sie so leicht mit guter Kleidung und europäischem Flair hinters Licht führen?
Wahrscheinlich wurde er durch ihr frostiges Schweigen gewarnt, denn seine Stimme senkte sich nun um eine Oktave und sein Tonfall wurde zu einer Drohung. »Mystere, eine Sache gibt es, die ich nicht tolerieren werde’ und das ist ein Judaskuss. In unserer kleinen Gruppe lautet die Devise: Einer für alle, alle für einen. Niemand verheimlicht den anderen gegenüber etwas. Habe ich mich da deutlich genug ausgedrückt?«
Einen Moment lang spürte sie, wie im Schutze der Dunkelheit Tränen in ihren Augen und in ihrer Kehle brannten. »Ja«, stieß sie hervor.
Rillieux aber, der ihre Stimmungen haargenau kannte, ging zu einem verständnisvollen Ton über. »Mystere, hast du etwa schon das Waisenhaus vergessen, aus dem ich dich herausgeholt habe?«
Vergessen? Niemals wieder würde sie so viel Glück haben. Sie dachte an die eiskalten Nächte, die schweren Bestrafungen, und es hatte wenig zu essen gegeben außer zweimal täglich Panada - eine Art Brotsuppe, in der ein paar Rübenstückchen schwammen. Dank Rillieux hatte sie das Waisenhaus als achtjähriges Kind verlassen können und gelernt, sich bis zum reifen Alter von zwanzig Jahren durchs Leben zu stehlen. Sie hatte als Straßendiebin angefangen und sich an der Seite von Rillieux in die obersten Schichten der Gesellschaft hochgearbeitet. Wie eine Schlange sich häutet, so hatte auch sie das alte, leidvolle Leben einfach abgestreift - nicht jedoch die Erinnerung daran und die Angst davor, wieder dorthin zurückkehren zu müssen.
»Nein«, antwortete sie mit Nachdruck, »ich habe es nicht vergessen. Und ich bin dir dankbar. Du bist gut zu mir gewesen.«
Sie schob den Vorhang beiseite und schaute hinaus. Manhattan wurde noch immer erst teilweise mit Elektrizität versorgt, und Gaslatemen säumten die Straßen. Der Mond erleuchtete die Turmspitze der Trinity Church.
Rillieux’ noch immer freundliche Stimme schnitt sich in ihre Gedanken. »Es ist wegen Bram, nicht wahr? Du vermisst ihn noch immer. Du denkst noch immer an deinen Bruder.«
»Er ist nun sechsundzwanzig«, sagte sie grübelnd, mehr zu sich selbst als zu Rillieux. »Wenn er noch lebt, so ist er alles, was ich noch an Familie habe.«
»Falsch, meine Liebe. Wir sind deine Familie. Wir alle. Ich, du, Baylis, Evan, Rose und sogar unser kleiner Hush, wenn er so weit sein wird. Konzentriere dich lieber auf das, was du hast und nicht auf das, was du verloren hast. Bram wird nun schon seit zwölf Jahren vermisst. Offen gesagt, diejenigen, die das Pech haben, als Matrosen entführt zu werden, leben für gewöhnlich nicht mehr sehr lange. Es ist unwahrscheinlich, dass er wieder auftauchen wird.«
Erneut spürte sie das salzige Brennen von Tränen in ihren Augen. Er hatte wahrscheinlich Recht, sie würde jedoch ihre geheime, kostspielige Suche nach ihrem Bruder nicht aufgeben. Hoffnung war ihr Wachtraum, das Einzige, was sie am Leben hielt.
Ihre Kutsche rollte gerade in dem Moment unter der Hochbahn hindurch, als ein später Pendlerzug über ihren Köpfen entlangdampfte. Mystere hörte Baylis, der oben auf dem Kutschbock saß und die Pferde antrieb, fluchen, als Ruß auf ihn niederrieselte. Erneut konnte sie den Mond zwischen den stählernen Stützpfeilern aufblitzen sehen.
Trotz ihrer Bemerkung zu Belloch über die Lächerlichkeit des Namens Lady Moonlight wusste sie, dass dieser im Grunde auf unheimliche Weise passend war.
Das erste Mal, das Lady Moonlight die Aufmerksamkeit der Presse auf sich gezogen hatte, war nach den grandiosen, stadtweiten Feierlichkeiten zum Anlass der Eröffnung der Brooklyn Bridge im vergangenen März. An jenem Abend hatten New
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