Diebin der Nacht
Diskretion an den Tag gelegt. Sie wies deren Versuche zu einem Gespräch besonnen zurück, stets höflich zwar, aber bewusst arrogant in der Hoffnung, dass ihnen ein solcher Snobismus verhasst war. Das schien zu funktionieren, denn am Morgen zuvor hatte vor ihrer Tür ein kurze Dialog stattgefunden. Die spöttischen Stimmen wurden bewusst lauter, damit sie den neuen Namen hören konnte, den sie für sie gefunden hatten:
»Sollen wir die neue Mieterin zum Essen einladen, Mädels?«
»Oh, weißt du es denn nicht? Die Marquise nimmt ihre Mahlzeiten nicht mit gewöhnlichen Sterblichen ein.«
»Nein, die Marquise zieht es vor, an Keksen zu knabbern, und zwar ganz allein mit ihrer erhabenen Wenigkeit.«
Ihr Gelächter klang derb, irgendwie gekünstelt, denn sie ärgerten sich wirklich über sie.
Sollen sie sich ruhig mit ihren belanglosen Gehässigkeiten abreagieren, dachte sie. Solange es sie davon abhielt, sich über sie zu wundern, war es ihr egal. Wenn sie Glück hatte, würde sie schon bald fort und dieser Ort nur noch eine verblassende Erinnerung für sie sein.
Sie hatte ihr Geschäft mit Jerome Heizer abgeschlossen, nun war ihre Flucht aus der Stadt zumindest finanziert, wenn nicht gar gesichert. Noch immer erschauderte sie, wenn sie sich an die Water Street erinnerte, in deren Nähe die Mietskasernen inmitten ihrer übelriechenden Abwasserkanäle und dem Gestank von Fäulnis und Verfall hochragten.
Heizer hatte sie mit professioneller Höflichkeit behandelt, zunächst jedoch eine clevere Kaufunwilligkeit vorgetäuscht, indem er andeutete, dass der Butler-Smaragd zu bekannt war und somit auch zu riskant. Zweifelsohne hatte er aber sein Schmirgelrad und seine Säge mit Diamantspitze schon in Bewegung, noch bevor sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war. Sie hatte nämlich gehört, dass niemand besser darin war als er, einen Edelstein zu verändern - oder schneller darin, einen loszuwerden. Das interessierte sie jedoch wenig, denn er hatte ihr, ohne Fragen zu stellen, eintausend Dollar in bar bezahlt, und das war genug, um es ihr zu erlauben, ihren Standort zu wechseln und eine Weile zu überleben. Wenn sie Glück hatte, sogar lange genug, um eine einträgliche Anstellung zu finden.
Mystere hatte sich für Boston entschieden, denn sie wusste von respektablen Gegenden, in denen Zimmer zu akzeptablen Preisen vermietet wurden. Sie wusste außerdem, dass sie sich beeilen musste, denn zu viele Menschen waren hinter ihr her. Wenigstens fühlte sie sich ein wenig besser durch die Erkenntnis, dass fast alle ein Interesse daran hatten, die Nachricht von ihrer Flucht geheim zu halten. Niemand außer der Presse selbst würde etwas von der Geschichte haben, wenn sie in den Zeitungen hochgespielt werden würde. Trotzdem würde die Nachricht irgendwann nach draußen dringen, denn es gab zu viele
Informanten unter den Hausangestellten der »oberen Vierhundert«.
Sie dachte sich also den bestmöglichen Plan aus, denn sie wusste, dass die Grand Central Station und die Schifffahrtsbüros der Passagierlinien gut überwacht werden würden. Den Flüssen würde man wahrscheinlich weniger Aufmerksamkeit schenken, so hatte Mystere schon eine Passage auf der Hudson River Line nach Creton-on-Hudson gebucht. Von dort aus würde sie dann mit dem Zug nach Boston reisen.
Ihr Boot sollte um neun Uhr an diesem Morgen von seinem Liegeplatz in der West Street ausschiffen, sie war jedoch schon lange vor Tagesanbruch wach und stellte sich der Angst, die ihr inzwischen einen stechenden Kopfschmerz verursachte. Sie fürchtete nicht nur das Unbekannte, sondern auch die Tatsache, dass sie nun für immer aus Rafes Leben verschwinden würde. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie genau dämm gebetet; nun jedoch hoffte sie insgeheim, dass er irgendwie auftauchen und sie zurückhalten würde.
Um acht Uhr lief sie zum Mietdroschkenstand in der 14. Straße und arrangierte schnell, dass ein zweiter Kutscher ihren Schrankkoffer abholte und ihn am Dampfschiffterminal ablieferte.
Obwohl ihr Gesicht durch den Spitzenschleier ihrer Witwenhaube verdeckt war, drückte Mystere sich ganz nach hinten in den Sitz der Droschke, denn sie fühlte sich ungeschützt und verletzbar durch die zahllosen Augen. Als ihre Angst schließlich nachließ, dachte sie erneut an das große, triste, aus Holz gebaute Terminalgebäude, wo jeder von der Straße sich leicht zwischen den Passagieren mit Schiffskarten herumtreiben konnte.
Zunächst mit derlei Sorgen beschäftigt, dauerte
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