Diebin der Nacht
es eine Weile, bis sie feststellte, dass die Mietdroschke in Richtung Lower East Side fuhr und nicht zum City Harbor.
»Sir!«, rief sie verärgert zum Kutscher hoch. »Sie nehmen den falschen Weg, um zur West Street zu kommen!«
»Ich weiß genau, wo ich bin, Lady«, versicherte er ihr und knallte mit seiner geflochtenen Peitsche auf die Hinterbacken des Pferdes, damit es schneller wurde. Dadurch wollte er sichergehen, dass sein Fahrgast nicht fliehen konnte.
Erst jetzt kam ihr in den Sinn, dass sie keine Ahnung hatte, was mit der Droschke passierte, die ihren Schrankkoffer transportierte. Sie wurde krank vor Angst, als die schneller werdende Kutsche in eine ungepflasterte Gasse in der Nähe der Docks einbog.
Plötzlich hielt sie neben einem verlassenen Verladedock an, und zwar so abrupt, dass sie beinahe nach vom von ihrem Sitz gerutscht wäre.
»Ich denke, ich habe das gerissene kleine Weibsstück erwischt, nach dem du gesucht hast«, rief der Kutscher jemandem zu, den sie jedoch nicht sehen konnte. »Komm und sieh dir ihr Gesicht an.«
Angestrengt versuchte sie, ihren Atem unter Kontrolle zu halten, während Angst ihre Muskeln zu lähmen schien. Ein paar Sekunden lang überlegte sie, ob sie aus der Droschke springen sollte. Bevor sie jedoch irgendetwas unternehmen konnte, schob sich ein riesiges, bösartiges, unrasiertes Gesicht um den Leinenschutz he ru m und sah sie an. Der Atem, der plötzlich in ihre Nasenlöcher stieg, stank nach billigem Whisky.
»Dann wollen wir dich mal genauer anschauen«, sagte Sparky und griff nach ihrem Schleier.
»Fass mich nicht an!«, protestierte sie und schob seine Hand weg.
»Du bist ein lebhaftes kleines Miststück, was?«, fragte er anerkennend. »Vielleicht durchsuch ich dich lieber nach Waffen, was?«
Er griff nach ihren Brüsten, aber so schnell wie eine Schlange hatte Mystere ihn fest in seine Hand gebissen. Sparky schrie vor Wut und Schmerz.
»Du magst es wohl auf die grobe Art, wie?«, bemerkte er aufreizend, und seine Stimme wurde plötzlich vor Erregung ganz heiser. »Das ist auch mein Ding.«
Sie sah, wie er seine rechte Faust zusammenballte. Bevor sie sich jedoch schützen konnte, schlug Sparky schon so hart zu, dass der Schlag sie buchstäblich betäubte. Sie war nicht in der Lage sich zu wehren, als er ihr die Haube herunterriss.
Nachdem er sie erkannt hatte, entstellte ein breites Grinsen sein riesiges Mondgesicht. Die Droschke schaukelte heftig, als der große Mann sich nach oben hievte, sie zur Seite stieß und sich neben sie setzte.
»Gutes Auge, Hiram, du hast unsere Wachtel geschnappt«, rief er zum Kutscher hoch. »Und nun lass uns zur Great Jones Street fahren und das Kopfgeld kassieren.«
»Ich werde ihr das bringen«, sagte Paul zu Rose und erhob sich von seinem Stuhl. Er hakte den Stock über seinen Vorderarm, sodass er ihr das Tablett abnehmen konnte. »Ich hatte dir doch schon gesagt, als Mystere hierher gebracht wurde, dass du dich von ihr fern halten sollst. Ist das klar?«
»Aber Paul, ich wollte doch nur-«
»Rose, du hast schon viel zu viel Mitgefühl für sie entwickelt.«
»Irgendjemand muss das ja schließlich tun«, sagte sie zornig. »Ich habe ihre Prellung gesehen, Donnerwetter!«
»Na, na, hier ist sie sicher und niemand wird ihr wehtun. Ich werde es nicht zulassen, dass du gemeinsam mit ihr intrigierst, hast du mich verstanden? Sie ist zu meiner - ich meine unserer letzten Chance geworden, ein bisschen Kapital aufzutreiben, bevor wir alle fliehen müssen. Rafe Belloch kann es sich leisten.«
Auf dem Tablett befanden sich eine Suppenschale, Brot und Butter, ein Glas Milch und ein paar Toilettenartikel. Paul trug es langsamen Schrittes nach unten in den mit Gas beleuchteten Kellerraum, der als Speisesaal für die Bediensteten benutzt wurde. Er holte einen Schlüssel aus seiner Tasche und schloss eine Tür auf, die durch einen riesigen Kohleofen verdeckt wurde.
Die Tür führte in einen kleinen, fensterlosen Lagerraum, der mit Gartengeräten und Nahrungsmitteln vollgestellt war. Es strömte genug Licht herein, um Mystere sichtbar werden zu lassen, die auf einer Matratzenpritsche lag. Ihre Hand- und Fußgelenke waren mit Seilen zusammengebunden.
Paul stellte das Tablett auf einer in der Nähe stehenden hölzernen Kiste ab. Dann befreite er sie von ihrem Stoffknebel.
»Musst du mir das unbedingt in den Mund stecken?«, protestierte sie. »Ich bin ja wohl kaum der Typ, der schreit.«
»Ich weiß, aber es ist schwierig
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