Diebin der Nacht
sie die lange und langsame Fahrt. Es war ein schöner Tag, mit strahlendem Sonnenschein, einem wolkenlosen Himmel und einer gleichmäßigen Brise aus nördlicher Richtung, die die Hitze erträglich machte. Wohl wahr, es konnte passieren, dass man zufällig vom Washington Square aus in südliche Richtung schaute, wo ständig diese dichte, dunkle Dunstglocke über dem unteren Manhattan schwebte - dem Fabrikendistrikt, der mit allem Möglichen, von Chemiewerken bis hin zu Gerbereien voll gestopft war. Mystere nahm dies einfach hin, denn sie war mit der Stadt groß geworden und hatte beobachtet, wie diese sich weiter und weiter nach Norden hin ausbreitete, bis zum einzig noch übrig gebliebenen ländlichen Teil Manhattans. Dort weidete noch Nutzvieh, wenn auch schon Gehwege angelegt und Gasleitungen um sie herum verlegt wurden. Erst kürzlich hatte sie gelesen, dass die letzten Herdenbesitzer und Bauern, die nur für den Eigenbedarf anbauten, in Höhe der 78. und 79. Straße nun verjagt wurden. Selbst die
landwirtschaftlichen Felder von Harlem wurden inzwischen auf Bauplätze hin vermessen.
Der bemerkenswerte Fortschritt war überall um sie herum deutlich sichtbar, vor allem über ihrem Kopf, wo ein dickes, verworrenes Netz aus Telefon- und Elektrokabeln an einigen Stellen den Himmel verdeckte.
Sie wollte gerade den Park betreten, als eine elegante, lodengrüne Kutsche auf der anderen Seite der Avenue vorbeifuhr. Deren glänzende, goldene Geschirrvorrichtung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, und zu spät erkannte sie, wem die Kutsche gehörte. Noch bevor sie sich wegdrehen konnte, fand sie sich gefangen in dem fast körperlich spürbaren Blick Rafe Beilochs.
Sie wagte es nicht, in den Park zu verschwinden, denn das würde so aussehen, als wollte sie sich vor ihm verstecken. In der Hoffnung, dass ihr Schleier sie schützen würde, ließ sie es also zu, dass er sie nach Lust und Laune musterte. Auf einem Gehsteig voller kauflustiger Menschen wählte er ausgerechnet sie aus, um sie mit minuziöser Aufmerksamkeit zu beobachten. Trotz ihrer Besorgnis kam sie nicht umhin festzustellen, dass das Fenster ihn gleich einem Gemälde umrahmte - das Porträt eines dunkeläugigen, gefährlichen jungen Adligen mit ausgeprägter Stirn.
Ich habe ein großes Interesse an den Methoden und Techniken des Gesellschaftsdiebes, Miss Rillieux.
Dann fuhr er glücklicherweise an ihr vorbei, und sie konnte sicher den Park betreten.
Sie und Lorenzo Perkins hatten vereinbart, sich hin ter dem Wasserengel nahe der Bethesda Terrace nördlich des Sees zu treffen. Wie üblich verspätete er sich. Sie fand eine leere Steinbank, von der aus sie einen guten Blick über die überfüllte Piazza hatte, und sie setzte sich dorthin, um auf ihn zu warten. Wasser rauschte aus den bronzenen Füßen des Engels und lief in Kaskaden die Stufen des Brunnens hinab.
Nur schiere Verzweiflung, irgendetwas über ihren Bruder herauszufinden, hatte sie dazu bringen können, einen ehemaligen Pinkerton-Detektiv anzuheue rn . Zunächst einmal hatte sie selbst jede erdenkliche Möglichkeit ausgeschöpft. Befragungen irischer Immigranten aus ihrer alten Nachbarschaft in Dublin, Nachforschungen in der Universitätsbibliothek - sie zündete sogar regelmäßig eine Kerze für den heiligen Antonius an, den Schutzpatron aller verlorenen Dinge. Natürlich heimlich, denn sie war eine fromme Katholikin inmitten der herrschenden Protestantenelite und besuchte zusammen mit Paul die Trinity Church.
Am Ende jedoch entschied sie, dass Gott denen hilft, die sich selbst helfen. Also hatte sie unter hohen Kosten und großen Risiken zusätzlich Perkins Dienste angeheuert. Bisher hatte er aber nur wenig herausgefunden, mit dem sie etwas anfangen konnte, lediglich vage, unbestätigte Informationsfetzen.
Während sie so grübelte, bemerkte sie Lorenzo erst, als er sich neben sie setzte. »Was soll das mit der Witwenkleidung?«, begrüßte er sie.
»Lediglich eine kleine Vorsichtsmaßnahme. Waren Sie in der Lage, irgendetwas herauszufinden?«
Perkins schaute sie mit den kleinen, glanzlosen Augen einer Schildkröte an. Er befand sich irgendwo in den Dreißigern und hatte arg vernachlässigte Zähne. Er war lächerlich stolz auf seinen gewachsten Schnurrbart, den er ab und zu sorgfältig mit Daumen und Zeigefinger zwirbelte - vielleicht, um von seinen Zähnen abzulenken. Ihr Blick jedoch wurde gerade dadurch um so öfter auf seinen Mund gelenkt.
»Ich hab wegen diesem Schiff rumgefragt, von
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