Diebin der Nacht
sei dir außerdem gewiss, dass - egal, ob ihr es schafft hierher zu kommen oder nicht - für dich, Maureen, Bram und My stere in meinem Testament gesorgt sein wird. Ohne deine Hilfe hätte ich nie nach Amerika gehen können. Das Geld, d as du mir unter großen Entbehrungen für dich und deine Familie gabst, hatte mir die Überfahrt ermöglicht. Gott segne dich und erhöre meine Bitte, dass wir alle schon bald wieder vereint sein werden.
Den letzten Abschnitt konnte sie jedoch nicht mehr lesen, da er schon zu verblichen war. Und so sehr sie es auch versuchte, die fast vollständig verblichene Unterschrift konnte sie genauso wenig entziffern. An einer Stelle hatte sogar Wasser die Tinte verwischt, noch bevor sie verbleichen konnte. Sie hatte den Brief einst zu einem Restaurator alter Handschriften gebracht, der leider ohne Erfolg ver- sucht hatte, die Unterschrift mit einer Tinktur aus Quecksilber und Zink lesbar zu machen.
Noch dazu hatte sie keinen Namen, mit dem sie ihre Suche beginnen konnte, denn sie hatte nie ihren Nachnamen gewusst - oder ihn vor langer Zeit schon vergessen. Brendan, ihr Vater, war schon gestorben, noch bevor ihre Mutter diesen Brief erhalten hatte, und Mystere war erst zwei Jahre alt gewesen, als auch ihre Mutter durch die Schwindsucht hinweggerafft wurde. Als eine ihrer letzten Taten hatte Maureen sie und den achtjährigen Bram auf ein Schiff verfrachtet, das nach Amerika fahren sollte.
Mystere faltete den Brief vorsichtig zusammen und steckte ihn wieder weg. Das Gedächtnis war etwas, das sie erstaunte und gleichzeitig entmutigte: Es konnte sich durch das ganze Leben eines Menschen bewegen, und zwar in der Zeit, die man brauchte, um einen Schuh zuzubinden. Es konnte jedoch ebenso gut dabei versagen, die grundlegendsten Fragen über die eigene Existenz zu beantworten. Sie hatte keine Erinnerungen mehr an ihr Leben in Irland, lediglich diesen Brief und die Dinge, die Bram ihr erzählt hatte. Und auf einer Sache hatte er immer und immer wieder bestanden, und zwar, dass ihre Mutter ihm erzählt hatte, dass er und Mystere Ansprüche auf ein großes Vermögen hätten.
Unten in der Eingangshalle schlug die hohe Standuhr die Viertelstunde und holte sie mit einem Ruck wieder in die Gegenwart zurück. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und umklammerte ihren Weidenkorb, in dem ihr Schleier steckte.
»Heute«, sagte sie hoffnungsvoll zu ihrem Spiegelbild. »Heute wird Lorenzo etwas für mich haben.« »Denke immer daran, Junge«, drang Rillieux’ volltönende Stimme durch die angelehnten handgeschnitzten Rosenholztüren des Salons, »ein ausgezeichneter Moment, den man unbedingt ausnutzen sollte, sind die ersten kritischen Sekunden, wenn zwei Bekannte sich auf der Straße begegnen. Der Moment, wenn ihre Augen sich schließen und sie den Beschluss fassen, sich gegenseitig durch die Rituale der Begrüßung anzuerkennen.«
Mystere warf einen kurzen Blick durch die offenen Türen in einen luxuriös ausgestatteten Raum, der durch vergoldete, sternförmige Messinglampen erleuchtet wurde, die erst kürzlich elektrifiziert worden waren. Das gleichmäßige Licht hob einen persischen Hamadan-Teppich in roten, blauen und grünen Farben vor einem schwarzen Hintergrund hervor. Rillieux saß in einem aus Nussbaumholz geschnitzten Lehnstuhl und gestikulierte mit seinem Spazierstock wie ein Dirigent mit seinem Taktstock. Und der junge Hush - der einzige Name, unter dem sie ihn kannten - hatte sich buchstäblich zu Füßen seines Meisters auf eine gepolsterte Fußbank gesetzt.
»Das Begrüßungsritual«, fuhr Rillieux mit seinem Vortrag fort, »ist eines, das für ein paar Sekunden die komplette Aufmerksamkeit erfordert. Ich habe einst bei genau solch einer Gelegenheit einen Mann um seinen Handkoffer erleichtert. Aber die Wahl des richtigen Zeitpunktes ist alles, gemeinsam mit blitzschnellen und fehlerlosen Bewegungen. Die Schnelligkeit ist alles, Hush. Diese und absolute Zuversicht, denn du bist ein Künstler in deinem Metier.«
»Ein Künstler, Sir?«
»Natürlich. Stehlen - was ich Aneignung nenne - ist eine vielschichtige und wunderbare Kunst, wenn sie richtig ausgeübt wird. Sie sollte jedoch niemals Drohungen, Gewalt oder Blutvergießen mit sich bringen. Diese Straßenlümmel und Kakerlakenwächter, die ihre Opfer einschüchte rn , verletzen oder gar töten, kann ich auf den Tod nicht ausstehen. Warum sollte man einen Erzeuger weiterer reicher Männer töten? Genauso, wie ein guter Farmer
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