Diebin der Nacht
mir, dass ich mich für Sie entkleide, um Ihnen meine Unschuld zu beweisen?«
»In der Tat, das tue ich. Sehen Sie, diese Frau, die mich ausraubte, verlangte auch von mir, mich auszuziehen.«
»Nun, dann werden Sie mich wohl weiterhin verdächtigen müssen, denn ich versichere Ihnen, dass ich mich nicht für Sie entkleiden werde.«
Er lachte, es war jedoch ein freudloses Lachen. Seine Stimme wurde tiefer und rauer, und irgendetwas Animalisches in ihrem Inneren wurde durch die sexuelle Dringlichkeit in seinem Tonfall erregt, das ihr Angst machte.
»Oh, ein Griff würde auch schon genügen, um nachzuprüfen, ob meine Vermutung stimmt«, warnte er sie dreist, »jetzt sofort!«
»Tun Sie es doch!«, schleuderte sie ihm entgegen, wobei sie seinen Blick erwiderte, um ihre Kräfte mit den seinen zu messen. »Beweisen Sie mir doch, dass Abbot Pollard Recht hat mit dem, was er über Sie und Ihresgleichen sagt.«
»Bei Gott, das werde ich«, flüsterte er beinahe und kam ihr näher.
»Mystere!«, ertönte eine weibliche Stimme von der offenen Fenstertür hinter ihm herüber. »Ich hatte mich schon gefragt, wo Sie sich versteckt haben. Oder habe ich da etwa Pläne für ein Durchbrennen gestört?«
Ausnahmsweise einmal war Mystere überglücklich, Carrie Astor zu sehen. Sie stürzte vor und fegte schnell um Belloch herum. »Carrie, wie schön, Sie zu sehen. Oh, Mr. Belloch und ich unterhielten uns lediglich über einen Aspekt der Anatomie griechischer Statuen. Wie geht es Ihnen, Carrie?«
Sie nahm die Neuangekommene beim Arm und ging mit ihr zusammen wieder hinein.
»Sie werden es nicht glauben«, vertraute Carrie ihr mit schockiertem Tonfall an, »aber Mr. Oakes zeigt Fotografien von Kadavern herum. Mir ist beinahe schlecht geworden. Dieser Mann ist... ganz schön seltsam.«
»Miss Rillieux?«
Mystere schaute über ihre Schulter zurück. »Ja, Mr. Belloch ?«
»Ich werde wohl nie aufhören, es mir vorzustellen«, sagte Rafe mit spöttischer Stimme, indem er ihre eigenen Worte aus jener Nacht in Five Points zitierte.
Eine verzehrende Angst übermannte sie. Er wusste es. Er wusste es, und er würde so lange unbarmherzig sein, bis er sich sicher sein konnte.
Sie errötete, während er einfach nur lachte. Und trotz ihrer gespielten Tapferkeit war sie es, die zuerst ihren Blick senkte und von ihm abwendete.
7
Hushs erste Lesestunde fand in dem selben Salon statt, in dem Rillieux und sein einzigartiges Gefolge von Dieben am Tag zuvor zusammengekommen war. Mystere saß in dem aus Nussbaumholz geschnitzten Sessel, dem Lieblingssessel ihres Onkels, während ihr Schüler mit dreckigem Gesicht rittlings auf einem dreibeinigen Hocker neben ihr saß.
Der Junge war clever, das wusste sie schon, er war aber auch undiszipliniert und nicht daran gewöhnt, sich konzentrieren zu müssen - abgesehen von einer unglaublichen Konzentrationsfähigkeit, wenn es darum ging, das Stehlen von Rillieux, einem Meister der Unterweisung zu erlernen. Sie begnügte sich also in dieser ersten Unterrichtsstunde damit, ihn die Buchstaben A bis L auswendig lernen zu lassen, was er in nur wenigen Minuten bewältigt hatte. Dann zeigte sie ihm, wie die Buchstaben ausgesprochen wurden, während er sie aus einem Abc-Buch abschrieb, das sie extra für ihn gekauft hatte.
»Nun höre gut zu und folge meinem Finger, während ich laut vorlese«, wies sie ihn an. »Achte darauf, wie die Buchstaben klingen. Vor allem die, die du heute gelernt hast.«
Sie las langsam aus Leslies lllustrated Weekly vor, und zwar einen interessanten kleinen Artikel über die kürzlich eröffnete Brooklyn Bridge. Hush folgte ihr genau, als ob das
Vergnügen, so nahe bei Mystere sein zu dürfen, die Mühen der Gelehrsamkeit wettmachten.
»Das wärs«, verkündete sie, klappte die Zeitschrift zu und legte sie zur Seite auf den Kaffeetisch. »Das sollte für die erste Stunde genügen. Es war doch gar nicht so schlimm, oder?«
»Nee. Du hast wirklich eine schöne Stimme, Mystere. Ich hör dich richtig gern vorlesen.«
Sie lächelte und zerzauste sein wildes, dunkles Haar. »Dank dir, du Charmeur. Möchtest du noch ein wenig Limonade?«
»Das ist verdammt nett von dir, aber siehst du - Limonade ist wohl eher was für Frauen und Kinder.«
Sie biss sich auf ihre Unterlippe, um ein Lächeln angesichts seiner ernsthaften Art zu unterdrücken. »Oh? Ich verstehe ... welches Getränk, glaubst du also, wäre für einen jungen Gentleman wie dich angebrachter?«
»Ich mag ein Getränk,
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