Diebin der Nacht
vielleicht dreißig Sekunden lang, ohne irgendetwas zu sagen. »Mystere, Baylis hält an seinen politischen Ansichten fest, weil sie den Armen Luftschlösser bieten, den ungebildeten Menschen, die weniger als ein Stück Dreck auf einer Müllhalde sind, um es geradeheraus zu sagen. Luftschlösser lassen sich jedoch nicht bewohnen, siehst wenigstens du das ein?«
Noch immer sagte sie nichts. Als spürte er ihre verwirrte Stimmung, wurde Rillieux sogar noch geduldiger.
»Und was dein ständiges Lamentieren in der letzten Zeit angeht, dass ich die anderen als Diener behandele - so denk doch bitte nur einen Moment nach. Ich muss ein strenges Regiment führen. Was passiert wohl in dem Moment, in dem einer von ihnen vor der verkehrten Person einen Fehler macht und irgendjemand unser Spiel durchschaut! Ein vollendeter Schauspieler übernimmt eine Rolle und lebt sie dann auch, um überzeugend zu sein.«
»Da haben wirs schon wieder, dass du Langfingerei mit Kunst vergleichst.«
»Junge Frau, was ich dir beigebracht habe, ist in der Tat Kunst, und du bist eine Künstlerin, ob du es nun glaubst oder nicht. Ist dir noch nie aufgefallen, auf welch minimalem Stand ich unsere angeblichen Hausangestellten halte? Mystere, selbst ein normaler Mittelklassehaushalt hat heutzutage in der Regel vier bis sechs Bedienstete. Die Haushalte der »oberen Vierhundert beschäftigen zwei bis drei Mal so viele. Mrs. Astor hat taktvoll über unseren Mangel an einem eigenen Gärtner und einer Zofe hinweggesehen, aber die Einstellung eines Lakaien war unumgänglich.«
»Du hast vermutlich Recht«, gab sie ein wenig nach, wenn auch widerwillig. »Aber du erwähntest Luftschlösser - unser eigenes Haus ist aus Karten gebaut und muss irgendwann einmal zusammenfallen.«
»Mein Herz, sollte ein Mann vielleicht aufhören zu essen, nur weil er eines Tages an einem Knochen ersticken könnte? Unser Beruf ist nichts für solche, die sich über Katastrophen Gedanken machen, die passieren könnten. Man kann darüber jammern, dass der beste Freund tot ist, man kann aber auch freudig verkünden, dass er einst gelebt hat. Beide Aussagen sind gleich wahr, wie man sich jedoch entscheidet, es zu betrachten, das unterscheidet die
Glücklichen im Leben von den Unglücklichen. Verstehst du, was ich meine?«
Seltsam genug, aber sie tat es. Manchmal war das, was er sagte, sehr vernünftig - sie konnte die Richtigkeit seiner Äußerung erkennen. Und dank seiner Schulung hatte sie gelernt, alles unter Kontrolle zu halten, nur ihre Gefühle nicht, die ließen sich nicht zügeln. Vor allem das Gefühl der Angst, denn sie bezweifelte ernsthaft, dass eine positive Einstellung aus Rafe Belloch jemals etwas anderes machen würde als das, was er war - eine ernsthafte Bedrohung für jeden, der sich ihm in den Weg stellte.
»Lass es nicht zu, dass dein Herz dir schwer wird«, fuhr Rillieux mit seiner beruhigenden, Respekt einflößenden Stimme fort. Seine dunklen, ausdrucksvollen und bezwingenden Augen brannten sich in ihr Inneres, und die jahrelange Unterwerfung brachte sie rasch in seinen hypnotischen Bann. »Heute Abend wirst du Sylvia Rohrs Brosche nehmen. Du wirst das schnell erledigen und schon längst nicht mehr in ihrer Nähe sein, wenn sie sie vermisst. In Ordnung?«
Sie nickte. »In Ordnung.«
»Braves Mädchen. Denk nur immer daran: Gehe sicher, dass deine Augen deine Bewegungen oder Absichten nicht verraten. Benutze irgendeine natürliche Ablenkung zu deiner Tarnung. Handle selbstsicher, schnell und fließend.«
Sie nickte erneut, gehorsam wie immer und allem Anschein nach wie das dünne Schilfrohr, das sich unter seinem Willen gebeugt hatte.
Am heutigen Abend würde sie jedoch nur stehlen, um Paul zu beschwichtigen. Beim nächsten Mal würde es dann Antonia Butlers schöner Smaragdring sein, und Mystere hatte vor, nach seinem Verkauf das Geld für sich selbst zu behalten - für Bram.
Jede von Mrs. Astors Veranstaltungen zog die Aufmerksamkeit der Presse auf sich. Am heutigen Abend jedoch, erkannte Mystere schnell, waren die Reporter in Scharen erschienen - zum einen natürlich, um die Erhabenen in ihrer Eleganz zu begaffen, was sie jedoch in Wirklichkeit geifern Heß, war die Hoffnung auf weiteren Klatsch über Lady Moonlight.
Sogar sie selbst, die sie abgestumpft war gegen den falschen Glanz der High Society, war beeindruckt von der Einladungsliste zum Ereignis dieses Abends. Noch bevor ihr Fahrzeug überhaupt das Astor Place Opera House erreicht hatte,
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