Diebin der Nacht
Schlagfertigkeit. Die Aussichten für ihr Überleben schienen in der Tat entmutigend, vor allem jetzt, wo Mrs. Astor sie auf die Folter spannte - sie hatte keine Vorstellung, was die einflussreiche Lady ihr zu sagen hatte.
Delmonico’s befand sich auf der Ladies’ Mile, von hochragenden Warenhäusern und steilen Canonwänden umgeben. Der Oberkellner machte ein Getue um Mrs. Astor und ihre Gesellschaft und begleitete sie an einen geräumigen Tisch, der mit einer Decke aus elfenbeinfarbener Spitze dekoriert war, und auf dem langstielige Gläser und glänzendes Silber funkelten.
Mystere, deren Magen nervös revoltierte, bestellte lediglich einen Artischockensalat und eine Fischcremesuppe. Nachdem der Kellner mit unterwürfiger Verbeugung in Mrs. Astors Richtung mit ihrer Bestellung fortgegangen war, fixierte diese mit ihren stählernen Augen Mystere.
Jetzt kommt’s, dachte sie mit bangem Herzen.
»Meine Liebe«, begann Mrs. Astor mit hoheitsvoller Förmlichkeit, »Sie sind jung, und Ihnen fehlen die Ratschläge einer erfahrenen Frau, der nur Ihr Bestes am Herzen liegt. Ihr Onkel ist ein ganz reizender Mann, der Sie offensichtlich wie eine Tochter liebt. Er ist jedoch nur ein Mann« - an dieser Stelle bewegten sich ihre Augen schnell mit einem geringschätzigen Blick zu Abbot hinüber - »und er ist nicht in der Lage, Ihnen die Feinheiten des ... ehm ... weiblichen Anstandes zu vermitteln.«
Eine große Last fiel plötzlich von Mystere ab. Sie war sich noch nicht sicher, wohin die Predigt führen sollte. Ganz sicher jedoch war es nicht die Krise, deren Eintreffen sie befürchtet hatte.
»Sie dürfen niemals vergessen«, fuhr Caroline fort, »wie leicht das Wort >Skandal< sich an eine Frau heften kann. Genau die gleichen Handlungen, die das gesellschaftliche Ansehen eines Mannes nur erhöhen können, können eine Frau in den Ruin treiben. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
»Ich denke ja. Sie meinen Rafe Belloch.«
Caroline nickte. »Die Tage des bedingungslosen öffentlichen Respekts für die Wohlhabenden Hegen hinter uns, meine Liebe. Es gab eine Zeit, da unser Privatleben niemals diskutiert wurde. John Gordon Bennett und sein grässlicher Herald haben all dies jedoch geändert. Er hat bezahlte Informanten unter unsere Dienstpersonal gebracht und seine Reporter getarnt, damit er unsere privaten Zusammenkünfte infiltrieren kann.«
»Dank dieser Schurken«, schaltete Abbot sich ein, »ist die Jagd auf die Reichen zu einem regelrechten Sport geworden.«
»Und nun, da Lance Streeter diese ... offensichtliche Liebschaft zwischen Ihnen und Rafe in Erfahrung gebracht hat«, fuhr Caroline fort, »müssen Sie vorsichtiger sein, meine Liebe. Ich bewundere Rafe sehr und erkenne seine Anziehungskraft auf unser Geschlecht. Ich befürchte jedoch, dass er ein leichtsinniger Lump ist, der sich über Konventionen einfach hinwegsetzt.«
»Das ist noch gelinde ausgedrückt«, äußerte Abbot sich abschätzig. »Der Mann ist niederträchtig und völlig ohne Ehrgefühl.«
»Das ist zu hart«, warf Caroline ein. »Er ist ein ehrenhafter Mann, nur folgt er halt seinem eigenen Ehrenkodex, nicht dem unseren.«
Abbot schnaubte. »Mit dieser Argumentation wäre jeder Verurteilte auf Blackwells Island ehrenhaft.«
Sie verfielen in Schweigen, da der Kellner zurückkam und ihr Mittagessen auf französischem Porzellan servierte. Jedes Mal, wenn die Schwingtür der Küche aufgedrückt wurde, konnte Mystere einen flüchtigen Blick auf die berühmte Kochstelle aus Ziegelstein und Mörtel mit ihrer wunderschönen Kupferverkleidung werfen, die den Rauch und die Gerüche durch einen Abzug in den Kamin leitete.
»Auf alle Fälle«, fuhr Mrs. Astor fort, als sie wieder allein waren, »müssen Sie Rafe gegenüber bestimmter sein, meine Liebe. Machen Sie ihm klar, dass Sie auf Ihre Tugend Wert legen, wenn er es auch nicht tut.«
Noch bevor sie über eine Antwort nachdenken konnte, murmelte Abbot plötzlich: »Oh, das ist aber nun wirklich köstlich.«
Sein ironischer Ton machte deutlich, dass er nicht sein Essen lobte. Mystere und Mrs. Astor folgten seinem Blick, und plötzlich spürte Mystere, wie sie errötete: Rafe Belloch war gerade in den Speisesaal geführt worden, Antonia Butler an seinem Arm.
Es überraschte Mystere feststellen zu müssen, dass ihre erste Reaktion nicht Angst, sondern Eifersucht war. Auch Caroline schien nicht sehr erfreut zu sein über den Anblick von Antonia, die in deutlicher Bewunderung zu Rafe
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