Diebin der Nacht
ich schon jemals etwas verheimlicht?«
»Vermutlich nicht«, räumte er ein. »Du bist ein braves Mädchen. Aber du bist auch extrem launisch, und ich fürchte deine Impulsivität. Vor allem, wenn sie deinen Bruder Bram betrifft.«
»Da gibt es nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest.«
»Ich hoffe nicht, meine Liebe, um deinetwillen.« Sein fester, drohender Blick ließ einen Schauer über ihren Rücken laufen. »Illoyalität der Familie gegenüber ist eine Sünde, die ich niemals vergeben könnte.«
»Vorsicht mit dem Trittbrett, Miss«, warnte Mrs. Astors Kutscher Mystere, als er ihr in den viersitzigen Landauer half. »Ich hatte vorhin vergessen zu erwähnen, dass es frisch geschwärzt worden ist und abfärben könnte.«
»Warum um alles in der Welt«, nörgelte Abbot, als er seinen Platz auf dem Sitz gegenüber von Caroline und Mystere einnahm, »gibt man sich solche Mühe mit diesen Leuten? Das ist doch vertane Zeit!«
»Mir hat Mrs. Hanchons Rede recht gut gefallen«, focht Caroline ihn an. »Sie war fast dreißig Jahre lang Methodistenmissionarin für die Armen; sie versteht deren Mentalität.«
Auch Mystere hatte den Vortrag über »Die Förderung von Selbstständigkeit in der Arbeiterklasse« interessant gefunden. Mrs. Hanchon hatte von einer Arbeiterkolonie in New Hampshire erzählt. Aber Abbot ließ sie seine Verachtung spüren.
»Abbot, Sie sind unverbesserlich«, ermahnte Caroline ihn abwesend, während sie ihre Aufmerksamkeit auf Mystere richtete. »Wie Mrs. Hanchon uns geraten hat - verachte die Armut, nicht die Armen.«
Ist das eine kleine Anspielung, fragte Mystere sich besorgt. Hat sie mich durchschaut?
»Meine Liebe«, sagte Abbot zu Caroline, »der Pöbel muss im Zaum gehalten und nicht aufgestachelt werden.« Diese Äußerung fiel, während sie an Vanderbilts Grand Central Depot auf der 42. Straße Ecke Fourth Avenue vorbeifuhren. Auf dem großen Uhrenturm des Balmhofes waren gigantische Buchstaben zu sehen: NEW YORK & HARLEM R.R. Während der Landauer sich behutsam von der Bordsteinkante fe rn hielt, warf Abbot einen spöttischen Blick auf das vier Block lange Bahnhofsgebäude. Sein Zorn auf die Anerkennung des neureichen Vanderbilt-Clans durch die »oberen Vierhundert« war legendär.
»Was sagen Sie dazu, meine Liebe?«, wandte Caroline sich an Mystere. »Können die Armen moralisch aufgerichtet werden? Oder sind sie von Grund auf verdorben, wie Abbot es beharrlich behauptet.«
Erneut befürchtete Mystere, dass Caroline auf irgendeine Weise mit ihr spielte.
»Mir sind keine Beweise dafür bekannt«, gab sie zur Antwort, »dass moralische Verderbtheit die exklusive Domäne der Armen ist.«
Mrs. Astor nickte. »Gut formuliert. Man schaue sich nur unsere Lady Moonlight an. Alle Indizien weisen daraufhin, dass sie eine von uns ist.«
Mysteres Herz begann plötzlich zu rasen; ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Sie haben mich durchschaut, dachte sie verzweifelt und versuchte, ihre Angst unter Kontrolle zu halten. Es kostete sie große Mühe, Mrs. Astors Blick zu erwidern. Die Zeitungen vom Vortrag hatten ein großes Theater um Sylvias gestohlene Brosche veranstaltet.
»Ja«, stimmte sie zu. »Lady Moonlight ist ein gutes Beispiel, das trifft den Nagel auf den Kopf.«
»Sie beide schütten Kerosin in ein brennendes Gebäude«, sagte Abbot beharrlich. »Reicht man dem Pöbel den kleinen Finger, so nimmt er gleich die ganze Hand. Man braucht sich doch nur anzuschauen, wonach diese ewig Unzufriedenen im vierten Stadtbezirk nun schreien - eine Grundsteuer für die Reichen, um öffentliche Transportmittel für die Massen finanzieren zu können. Nun ist es also schon so weit gekommen, dass wir ihnen nicht einmal mehr entfliehen können.«
Noch während Abbot seine Tirade ausstieß, konnte Mystere jede Menge abgemagerter Kinder auf dem Gehsteig sehen, die nach ihrem Landauer griffen. Sie starrten mit dem leeren, glasigen Blick des Hungers dem Wagen hinterher, gezeichnet von chronischen Krankheiten. Sie selbst war einst eine von ihnen gewesen und ihr Herz sehnte sich danach, ihnen zu helfen. Sie würde jedoch niemals in der Lage sein, irgendetwas zu tun, wenn sie sich erneut in dieser erbärmlichen Hoffnungslosigkeit oder gar im Gefängnis befinden würde.
Als sie an dem massiven Triumphbogen des Washington Square vorbeifuhren, musste sie an Belloch denken. Diese ganze, ihm zur Verfügung stehende Macht konzentriert gegen ihre Raffiniertheit und ihre
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