Diebin der Nacht
Weg gehen und ihre neu gewonnene Freiheit dazu benutzen, Bram zu finden. Ohne ihn war sie völlig allein auf dieser Welt und jeglicher richtigen Familie beraubt.
Die Zeit war jedoch wie ein Vogel im Fluge. Der Dringlichkeit erneut bewusst, beschloss sie, endlich Antonia Butlers Smaragdring zu stehlen, in eine andere Stadt zu fliehen und eine weitere Identität anzunehmen. Die Hauptschwierigkeit würde darin bestehen, den Ring vor Paul zu verbergen. Sie würde einen sehr klugen Plan aushecken müssen.
Hush, der sie vom entgegengelegenen Ende des langen Hauptkorridors aus beobachtete, rief: »Alles okay, Mystere?«
Irgendwie gelang ihr ein Lächeln. »Alles okay«, log sie.
Sie gab dem Jungen ein Zeichen, näher zu kommen. Mit gesenkter Stimme, damit Paul sie vom Salon aus nicht hören konnte, fügte sie hinzu: »Bring später deine Fibel mit in meine Räume, wir werden dann die Lesestunde dort abhalten.«
16
Am Dienstagmorgen blieb Mystere oben in ihren Räumen und bereitete sich auf die bevorstehende Katastrophe vor, von der Paul hartnäckig bestritt, dass sie kurz davor war, sie zu verschlingen. Mit Rafe Belloch und Lorenzo Perkins als wachsende Bedrohungen wollte sie im Falle einer plötzlichen Krise mit einem Notfluchtplan vorbereitet sein.
Sie packte Kleidung und wichtige persönliche Dinge wie den mysteriösen Brief, der vor langer Zeit an ihren sterbenden Vater geschrieben worden war, in einen Koffer. Die Stadt zu verlassen gehörte nicht zu ihrem unmittelbaren Plan, denn die Suche nach Bram hatte hier ihren Mittelpunkt. Es gab jedoch ein paar Pensionen für ehrbare Damen in der Centre Street. Sie konnte wieder ihre Witwentracht anziehen und unter falschem Namen dort ein Zimmer nehmen. Das würde sie zwar nicht ewig schützen, aber auf diese Weise könnte sie ein wenig Zeit herausschinden.
Ihr Rückzugsplan war alles andere als perfekt, sie versuchte jedoch, sich Mut zu machen. Es waren nicht nur die Schande, der gesellschaftliche Ruin und das Gefängnis, die sie erwarteten - Entlarvung und Gefangennahme würden das Ende ihres Traumes bedeuten, ihren Bruder zu finden.
Sie war gerade dabei, den Lederkoffer zu schließen, als Rose ihren Kopf zur Tür hereinstreckte.
»Telefon, Mystere. Es ist Mrs. Astor.«
»Danke. Ach, Rose?«, rief sie aus, gerade bevor der Rotschopf die Türe wieder schließen wollte.
Ihr von der Spitzenhaube eingerahmtes Gesicht kam um den Türpfosten herum zurück. »Ja?«
Mystere zögerte, unsicher, was sie sagen sollte. Sie wollte Rose und die anderen Bediensteten warnen, dass Schwierigkeiten sich zusammenbrauen könnten - ernsthafte Schwierigkeiten. Aber Paul würde davon erfahren und fuchsteufelswild werden.
»Das hat Zeit«, sagte Mystere unglücklich.
Auf ihrem Weg zum Telefon verspürte sie ein kleines Anzeichen von Besorgnis. Wenn die Telefonanrufe Carolines auch nicht gerade selten waren, so war Mystere doch noch immer wegen der Störung in der Oper am Samstag schlecht angeschrieben.
»Hallo«, sagte sie mit lauter Stimme.
»Guten Morgen, meine Liebe«, begrüßte Mrs. Astors durch den Telefonmechanismus verzerrte Stimme sie. »Haben Sie schon Pläne für den späten Vormittag?«
»Nein, ich habe keine, aber ich glaube, mein Onkel Paul hat einen Termin beim Zahnarzt.«
»Kümmern Sie sich nicht um Paul, Sie sind es, die wir sehen wollen.«
Erneut verspürte Mystere ein inneres Anzeichen von Unbehagen. »Wir? Sie und Carrie?«
»Nein, Carrie hat einen Dampfer hoch nach West Point genommen, um ihren Cousin Andrew zu besuchen. Ich meine Abbot und mich, meine Liebe. Wir hätten gerne, dass Sie uns zu einem Vortrag auf der Fourth Avenue begleiten. Hinterher werden wir im Delmonicos essen gehen.«
»Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie an mich gedacht haben«, versicherte Mystere ihr.
»Ja«, antwortete Mrs. Astor, die dies als für sie gebührend akzeptierte. »Es könnte Ihnen jedoch missfallen, was wir Ihnen zu sagen haben.«
Es war ganz Carolines Art, schroff und unverschämt zu sein. Trotzdem bewirkte ihre Bemerkung, dass Angst in Mystere aufkam. Hatten die Probleme etwa schon angefangen?
»Wir werden mit meinem Landauer fahren«, fügte Caroline hinzu. »Es ist ein herrlicher Tag heute, um ohne Verdeck zu fahren. Wir werden um halb elf vorbeikommen.«
Paul war während des Telefongespräches nach unten gekommen. Er beobachtete Mystere misstrauisch, während sie den Hörer auflegte. »Wer war das?«
»Mrs. Astor.«
»Und sie hat nicht nach mir
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