Dies Herz, das dir gehoert
behandelt. Der wird ihn wieder gesund kriegen, da verlass dich drauf, Kind, uns alle wird er gesund kriegen ...«
»Und Sie sind mir bestimmt nicht böse, gnädige Frau? Es ist ja furchtbar nett von Ihnen, dass Sie mich nun ›du‹ nennen. Ich hätte natürlich alles nicht sagen dürfen, aber das von seinem Bruder musste ich sagen, denn der ist wirklich ein schlechter Mensch.«
»Und das ist bestimmt richtig, was Sie mir da erzählt haben? Sie irren sich bestimmt nicht?«
»Wie kann ich mich da irren, gnädige Frau! Ich weiß doch jedes Wort, wie die Hanne es mir erzählt hat. Mit mir hat er ja nicht davon gesprochen. Mit der Hanne hat er auch nie darüber sprechen wollen. Über ein halbes Jahr hat’s gedauert, bis sie ihn so weit hatte.«
»Also ist es wirklich wahr, ich kann es noch nicht glauben!«
»Leider ist es wahr, gnädige Frau. Und das Schlimmste war, dass er, den Bruder mein ich, all seine Schlechtigkeiten gar nicht zu ihm direkt gesagt hat, sondern zu Ihrem Mädchen.«
»Still, Kind. Mit seinem Bruder werde ich sprechen. Heute noch. – Aber eines verstehe ich nicht: warum hat mir der unglückselige Junge denn nie ein Wort davon geschrieben? Er musste doch wissen, dass ich, wie sein Bruder auch redet, seine Mutter bin.«
»Gewiss hat er Ihnen geschrieben, gnädige Frau. Aber gewiss doch. Es war freilich nur ein Abschiedsbrief, er hat Ihnen auch alles Geld hineingelegt, das er noch von Ihnen hatte.«
»Ich habe nie einen Brief bekommen.«
»Hanne hat ihn selbst auf das Postamt gebracht. Er war ›Eingeschrieben‹, er muss zu Ihnen gekommen sein, gnädige Frau.«
»Dann ist es schlimm, Marie. Schlimm für ihn – aber schlimmer noch für mich. So – und nun möchte ich mich noch einen Augenblick bei Ihnen hinlegen, ehe ich nun Hanne sehe. Gar zu sehr als uralte Frau möchte ich doch nicht vor ihr erscheinen.«
»Gnädige Frau, Sie und alt!«
»Heute Abend bin ich uralt, Marie, und sehr müde. Aller Dinge müde. Aber danach wird nicht gefragt. Darf es auch nicht. Nur einen Augenblick Ruhe bei Ihnen ...«
»Das hat der Hannes auch immer gesagt, als er noch ganz zerfahren war. Wenn ich dann an der Nähmaschine saß, ist er hier auf und ab gelaufen.«
»Der Hannes also auch. Nur, weißt du, Marie, ich laufe lieber nicht auf und ab, ich liege lieber. Wir sind zwar dieselbe Familie, aber das ist eben der Altersunterschied. – Und nun nähe los, dass dein Silberhochzeitskleid fertig wird!«
Und eine Tochter ...
Als es zweimal kurz klingelte, sah Marie von der Nähmaschine zu Frau Wiebe hinüber.
»Das ist Hanne«, sagte sie.
»Sie meinen, ich soll ihr aufmachen?«, fragte Frau Wiebe.
»Ja, das wird wohl das Beste sein!«
Sie stand auf, ging zur Tür und wandte sich plötzlich mit einem fast hilflosen Lächeln zu Marie Jäckel um. »Verstehen Sie, dass ich Angst habe und dass mein Herz klopft? So ein Unsinn, ich habe noch nie in meinem Leben Angst gehabt!« – Leiser: »Gebe Gott, dass sie so ist, wie Sie sie sehen!«
»Sie müssen keine Angst haben«, sagte Marie Jäckel tröstend. »Hanne ist noch viel besser ...«
Die Klingel schrillte ungeduldig. Frau Wiebe ging über den Gang. Sie öffnete die Tür. Hanne stand im Dämmerlicht des Treppenhauses vor ihr.
»Sie müssen nicht erschrecken, Fräulein Lark«, sagte Frau Wiebe. »Ich bin die Mutter von Johannes. Es geht ihm besser. – Ich wollte Sie gern kennenlernen.«
»Es geht ihm besser ...«, wiederholte Hanne mit leiser Stimme. Dann: »Wenn ich Ihnen vorangehen darf – in unser Zimmer.«
Sie standen einander gegenüber, sahen sich an.
»Aber ich kenne Sie ja!«, rief Frau Wiebe erstaunt. »Ich habe Sie schon gesehen! Warten Sie ... Sie sind ... Sie waren ...«
»Ich stand in einem Boot«, sagte Hanne Lark still, »neben Hannes ...«
»Und Hannes verbarg sein Gesicht vor mir.«
»Ja, damals hatte er noch Angst.«
»Und nun?«
»Hat er Sie denn noch nicht gesehen? Hat er denn noch nicht mit Ihnen gesprochen? – Es geht ihm doch wirklich besser?«
»Er hat mich gesehen. Er hat zu mir gesprochen – zehn Worte. Und mit diesen Worten verlangte er Sie!«
»Er hat mich verlangt ...!«
»Ja, aber jetzt geht es nicht«, sagt Frau Wiebe eilig, als sie sieht, dass Hanne schon wieder nach dem Mantel greift. »Jetzt schläft er ...«
»Und wann?«
»Morgen früh um neun.«
»Ach, morgen früh um neun ...«
»Wie? Passt es nicht? Geht es nicht?«
»Schlecht, ich habe eine dringende Arbeit. Sie rechnen auf mich in der
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